Die Schweizerin Jane Braden Golay: "Oft stellen Juden und Muslime überrascht fest, wie tief man sich gegenseitig verstehen kann."

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Der Wiener Moussa A. Diaw: "Antisemitismus, Rassismus und Nationalismus widersprechen dem religiösen Ideal."

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Jane Braden-Golay ist Präsidentin der European Union of Jewish Students, Moussa A. Diaw ist Pädagoge und Mitglied des Radicalisation Awareness Network der EU-Kommission. Im Doppelinterview mit daStandard.at suchen beide nach Wegen, um Juden und Muslime einander näher zu bringen.

daStandard.at: Juden und Muslime haben eine wechselvolle und doch gemeinsame Geschichte. Wo liegen Möglichkeiten, um den Konflikt zu entschärfen?

Diaw: Grundsätzlich ist das sozusagen ein säkularer Konflikt. Herzl, der Erfinder des Zionismus, war nicht religiös und suchte nach europäischem Vorbild ein Land, um einen Nationalstaat für ein Volk ohne Land zu schaffen, als Folge des erlebten Antisemitismus. Auch die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) war keine religiöse Organisation.

Das hat sich aber tatsächlich im Laufe der Zeit verschoben, auch weil unterschiedliche Gruppen oder Staaten auf beiden Seiten den Konflikt religiös deuteten, sei es die religiöse Siedlerbewegung auf jüdischer Seite oder die bekannten Akteure auf palästinensischer Seite, die auch in einen Konflikt mit der PLO geraten sind.

Braden-Golay: Es stimmt, dass Herzls Zionismus säkular war, und ich finde auch, dass der Hintergrund um die Staatsgründung Israels zu wenig bekannt ist. Jedoch ist die Realität mittlerweile so, dass es schwieriger wird, Politisches und Religiöses auseinanderzuhalten.

Religiöse Autoritäten, zum Beispiel Rabbiner und Imame, haben deshalb in diesen spannungsgeladenen Zeiten eine spezielle Verantwortung gegenüber ihren Gemeindemitgliedern, was den Diskurs um den Konflikt angeht. Sowohl der Islam als auch das Judentum tragen Botschaften von Toleranz, Akzeptanz und Frieden in sich, und es liegt an den Menschen, diese Botschaften zu unterstreichen und im Namen ihrer Religion zu leben.

daStandard.at: Wie könnten Gemeinsamkeiten gefördert werden?

Diaw: Das geschieht eigentlich schon, zum Beispiel bei unserer Foundation for Ethnic Understanding und dem Gathering of Muslim and Jewish Leaders, wo man als muslimisch-jüdische Delegationen die Anliegen in Gesprächen mit Vertretern der EU oder Ministern bespricht. Allerdings ist die mediale Wahrnehmung sicher eine geringe.

In Österreich und Deutschland gibt es die Dialogorganisation European Muslim Jewish Dialogue. Studierende der Jüdischen Österreichischen Hochschülerschaft und des Netzwerks EUISA, der Europäischen Union unabhängiger Studierender, treffen sich zum Austausch über verschiedene Themen. Diese Tätigkeiten können auch als Form von Präventionsarbeit gesehen werden, weswegen wir am Radicalisation Awareness Network der EU angedockt sind.

Braden-Golay: Ich sehe zurzeit eine Entwicklung in Richtung mehr Koordination, jedoch steckt sie noch in den Kinderschuhen. Eine Erklärung ist, dass die jüdischen Gemeinden in den betroffenen Ländern oft über Jahrzehnte ihre repräsentativen Organisationen und Strategien aufgebaut haben, um die Interessen ihrer Mitglieder wahrzunehmen. Vielerorts hat die muslimische Gemeinschaft noch keine vergleichbaren Strukturen. Ich weiß jedoch von informellen Gesprächen zwischen jüdischen und muslimischen Führungspersonen und kann mir gut vorstellen, dass in Zukunft vermehrt zusammengearbeitet wird.

daStandard.at: Wie könnte die Annäherung konkret erfolgen?

Diaw: Indem man das Gemeinsame vor das Trennende stellt, an die monotheistische Tradition und gottesdienstliche Praxis erinnert und die gemeinsame Geschichte in Erinnerung ruft. Heute beschränkt sich die Erinnerung auf die letzten 75 Jahre. Schlimm ist es, wenn auf beiden Seiten einige auf Ausgrenzungsideologien und -praxen zurückgreifen, um die jeweils anderen zu dämonisieren.

Braden-Golay: Indem man im Kleinen, Alltäglichen und Lokalen beginnt. Oft stellen Juden und Muslime überrascht fest, wie tief man sich gegenseitig verstehen kann. Beide Religionsgemeinschaften kennen zum Beispiel religiöse Gesetze, die ihren Alltag regeln. Es ist wichtig, den interreligiösen und interkulturellen Dialog nicht als exklusiven Kreis für Theologen und religiöse Experten darzustellen, sondern als Ausdruck von Interesse und Respekt für Mitmenschen und Mehrwert für alle Beteiligten.

daStandard.at: Durch die Gaza-Offensive kam es in Europa zu teilweise heftigen Demonstrationen. Dabei werden immer wieder Juden und der Staat Israel in einen Topf geworfen. Fällt es europäischen Muslimen tatsächlich schwer, zwischen dem Judentum und dem Staat Israel zu unterscheiden?

Diaw: Pauschalisieren kann man das nicht, aber es gibt auf beiden Seiten die Wahrnehmung von "den Muslimen" und "den Juden" als den Gegnern des jeweils "anderen". Auf beiden Seiten der so denkenden Menschen vermutet man eine Art Weltverschwörung zur Beherrschung der jeweiligen Gesellschaft oder gar der ganzen Welt. Das äußert sich dann in dem Wunsch, alles, was scheinbar oder tatsächlich symbolisch für den anderen steht, zurückzudrängen. Sei es ein Pudding einer bestimmten Marke, ein Kopftuch oder koschere oder Halal-Speisen im Supermarktregal.

daStandard.at: In Europa spricht man nach Übergriffen auf jüdische Einrichtungen bereits von einer Form des muslimischen Antisemitismus. Was sagen Koran und Sunna über die Juden, kann man Judenhass religiös legitimieren?

Diaw: Antisemitismus, Rassismus und Nationalismus widersprechen dem religiösen Ideal, und auch die Geschichte zeigte, dass jüdische Menschen als autonome Milla unter den Muslimen lebten oder sogar zu ihnen vor Pogromen flüchteten. Juden sind Ahl al-Kitab, die Leute der Schrift, deren geschächtetes Fleisch Muslime essen dürfen und deren Frauen sie ehelichen dürfen. Safiya, eine Frau des Propheten Muhammad, stammt aus einem jüdischen Stamm.

daStandard.at: Gibt es in der jüdischen Gemeinde Ressentiments gegenüber dem Islam und Muslimen?

Braden-Golay: Ja, leider. In vielen westeuropäischen Gemeinden, vor allem in Frankreich und Italien, steckt die Vertreibung von beinahe einer Million Juden aus arabischen und muslimischen Ländern in den Jahren nach der Staatsgründung Israels noch tief in den Knochen und trägt zu einer Misstrauenshaltung gegenüber der lokalen muslimischen Bevölkerung bei.

Dazu kommt, dass die große Mehrheit der Übergriffe und Anschläge auf jüdische Gemeinden in Westeuropa aus islamistischer Ecke kamen und immer noch kommen. Was man zurzeit aus Paris und anderen Städten hört, ist haarsträubend und hochproblematisch. Der jahrzehntealte Nahostkonflikt und die Annahme, dass die Mehrheit der Muslime in Europa eine antiisraelische, antizionistische Einstellung haben oder zumindest nicht dagegen Stellung nehmen, ist auch Teil der verbreiteten Ressentiments, die ich wahrnehme.

Es ist wichtig, in diesem Zusammenhang zu verstehen, dass viele Juden Antizionismus als Antisemitismus wahrnehmen. Auch habe ich schon öfter von jüdischer Seite gehört, dass man die Stimmen von moderaten Muslimen vermisse, wenn es um Antisemitismus, Terrorismus, Radikalismus et cetera geht. Zusätzlich hat ein kleiner Teil der jüdischen Gemeinde in Europa die von populistischen Parteien geschürten Vorurteile und Ressentiments gegenüber Muslimen aufgenommen. Aus all diesen Gründen sind jüdisch-muslimische Dialogprojekte wichtiger denn je.

daStandard.at: Ist der Konflikt eine Hypothek für die jüdisch-muslimischen Beziehungen in Europa?

Diaw: Politische Konflikte im Ausland wirken leider auch auf unsere Communitys. Das war hier auch während des Vietnamkriegs oder zur Zeit des Kalten Krieges so. Alleine die Emotionen beim Erdogan-Besuch, Gezi-Park-Demos oder der Syrien-Konflikt, wo junge Menschen aus Europa zum Schießen und Sterben die sichere Umgebung ihrer Heimat verlassen, zeigen ganz klar, dass der Unfrieden nicht lokal begrenzt bleibt und eine eigentlich kontinuierliche Friedensarbeit nötig macht.

Braden-Golay: Als ich vor einigen Jahren mit muslimisch-jüdischem Dialog begann, dachte ich, dass man politische Themen ausklammern könne – doch damit redet man um den heißen Brei herum. Tatsache ist, dass der Nahostkonflikt einen tiefen Graben zwischen Juden und Muslimen in Europa geschaffen hat und dass mittlerweile mehrere Generationen mit fixen, unreflektierten Meinungen über "die anderen" aufgewachsen sind. Der Grund, warum die Beziehungen zwischen Juden und Muslimen derart angespannt sind, ist der Nahostkonflikt, und man macht keine Schritte vorwärts, wenn man ihn nicht thematisiert. Dafür braucht es jedoch gute Vorbereitung und Gesprächsleiter, die eine respektvolle und vertrauliche Atmosphäre schaffen können. Idealerweise baut man das über Wochen und Monate auf.

daStandard.at: Was können religiöse Verbände tun, um Rassismus und Hass zu bekämpfen?

Diaw: Trotz aller Emotionen und politischen Diskussionen tun sie teilweise jetzt schon einiges, nur wird es nicht wahrgenommen. Gerade die junge Generation engagiert sich von den Medien unbeachtet in verschiedenen Dialoginitiativen und Bildungsprogrammen, welche diese Phänomene thematisieren. Eine davon ist die zuvor genannte Dialoggruppe von Muslimen und Juden, wo Teilnehmer aus verschiedenen muslimischen Verbänden dabei sind. Ähnliches gibt es auch als christlich-muslimische Dialoginitiative. Die muslimisch geprägte Österreichische Schülerinnen- und Studentinnen-Union hat in Oberösterreich dafür auch eine Auszeichnung der katholischen Kirche erhalten und trifft sich regelmäßig mit der Katholischen Hochschuljugend in Linz.

Braden-Golay: Religiöse Autoritäten haben eine wichtige Vorbild- und Leitungsfunktion. Darüber hinaus bin ich überzeugt, dass junge Menschen ihre Kolleginnen und Kollegen auf beste Weise beeinflussen können – Gruppendynamik ist nicht zu unterschätzen. Religiöse Jugendbewegungen können hier eine wichtige Rolle spielen, und das versuchen wir auch bei der European Union of Jewish Students zusammen mit unseren Partnern wahrzunehmen. Verschiedene Organisationen bieten Seminare an, die junge Menschen dafür ausbilden, Rassismus und Hass unter ihren gleichaltrigen Glaubensgenossen anzupacken, und solche Programme sollten weiter ausgebaut werden. (Rusen Timur Aksak, daStandard.at, 28.8.2014)