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Ein Mitglied einer salafistischen Gemeinschaft verteilt auf diesem Archivbild auf dem Potsdamer Platz in Berlin an einem Stand kostenlose Exemplare des Korans.

Foto: dapd/Paul Zinken

Claudia Dantschke ist seit Ende 2001 wissenschaftliche Mitarbeiterin der ZDK Gesellschaft Demokratische Kultur in Berlin und leitet die Arbeitsstelle Islamismus und Ultranationalismus sowie die Beratungsstelle Hayat.

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STANDARD: Zunehmend mehr junge Menschen aus Europa begeistern sich für den Jihad. Ist Religion die wahre Motivation dafür?

Dantschke: Wir kennen zwei Wege der Radikalisierung: Es gibt Jugendliche, die sind auf der Suche nach Spiritualität. Die landen im politischen Salafismus, aber nicht im Jihad. Sie setzen sich intellektuell mit den Schriften auseinander und sind teilweise extrem radikal, lehnen die Bewegung Islamischer Staat (IS) aber ab. Und dann haben wir Jugendliche, die fühlen sich in ihrer Familie, in der Gesellschaft entfremdet, und suchen Orientierung und Antworten auf den Sinn des Lebens.

STANDARD: Ähnlich den Mustern in der rechtsradikalen Szene?

Dantschke: Ja, durchaus. Diese zweite Gruppe versucht, alles zu rationalisieren. Gott wird plötzlich eine Person, wie eine Art starker Vater, der einen an die Hand nimmt und durchs Leben führt.

STANDARD: Im Netz begeistern sich auffallend viele Mädchen für den Jihad. Was bewegt Frauen dazu?

Dantschke: Ein Drittel der Anfragen bei uns betrifft Töchter. Auch bei der Ausreise nach Syrien spielen immer mehr Mädchen eine Rolle. Sie kommen oft aus traditionellen Familien, erleben viel Einschränkung, während ihre Brüder viel Freiraum genießen. Für diese Mädchen ist Salafismus fast, wie eine Befreiung, so merkwürdig das klingen mag. Dort gelten die Einschränkungen für beide Geschlechter. Sie emanzipieren sich mit Bezug auf ihr islamisches Wissen von autoritären Vätern. Manche Eltern sind naiv und glauben, ihr Kind sei jetzt praktizierend gläubig geworden und merken viel zu spät, in welche Richtung das geht.

STANDARD: Predigen Frauen auch?

Dantschke: Sie spielen eine große Rolle bei der Rekrutierung der Mädchen. Vor allem auf Facebook und in Frauennetzwerken. Wir haben es hier aber auch mit einer radikalen Jugendkultur zu tun: Rapper aus Deutschland sind auf einmal in Syrien und posten bestialische Videos. Da gibt es eine richtige Fangemeinde pubertierender Mädchen, die sie anhimmeln, wie andere Justin Bieber.

STANDARD: Viele Fotos zeugen von brutaler Gewalt. Man kann also nicht sagen, diese Jugendlichen hätten ein falsches Bild vom Krieg.

Dantschke: Es gibt Jungmuslime, die sich zur Salafiyya hingezogen fühlen, aber entsetzt sind über die Bestialität. Die Mainstreammuslime lehnen das sowieso ab. Dann gibt es Jugendliche, die sind voll auf dem ideologischen Trip. Die werden durch grausame Bilder nicht abgeschreckt. Interessant ist, dass immer mehr Facebook-Seiten auftauchen, die sich mithilfe salafistischer Gelehrter gegen IS wenden. Aber die Jugendlichen orientieren sich an Floskeln und Predigern, die alles vereinfachen. Komplizierte theologische Auseinandersetzung erreicht sie nicht.

STANDARD: Die Aussteigerprogramme, die Sie betreuen ...

Dantschke: ... würde ich nicht so nennen. Es gibt in Deutschland oder Österreich noch keine echten Aussteigerprogramme. Es gab den Versuch des Verfassungsschutzes mit der Hotline, das hat gar nicht funktioniert.

STANDARD: Eine solche Hotline soll in Österreich bald kommen.

Dantschke: Das bringt nichts, so etwas beim Verfassungsschutz anzuhängen. Wir brauchen niedrigschwellige Angebote. Jemand der Zweifel hat, ist noch nicht ausgestiegen, aber er will reden. Das Gespräch ist die große Chance. Bindung kommt vor Bildung. Ich kann niemanden zum Reflektieren zwingen, aber Angebote an das Umfeld machen.

STANDARD: Wird das angenommen?

Dantschke: Seit 2012 haben sich etwa tausend Familien bei der Hotline des Bundesamtes für Migration gemeldet. Die Eltern werden an uns vermittelt oder melden sich direkt. Wir analysieren die Ursachen, warum Jugendliche fasziniert sind von Ideologien. Religion spielt kaum eine Rolle.

STANDARD: Sind Arabisch- und Islamkenntnisse Erfolgsfaktoren?

Dantschke: Nicht vordergründig Wir kennen uns im Thema aus, wissen, wie Radikalisierung verläuft und was man dagegen tun kann. Entscheidend ist der Zugang zu den Eltern und dass man zuhören kann. Eltern machen oft den Fehler, dass sie in ihrer Angst autoritär reagieren. Das treibt die jungen Menschen erst recht in die Arme der Gruppe. (Julia Herrnböck, DER STANDARD, 29.8.2014)