Reinhold Mitterlehner erklimmt nun die ÖVP-Spitze. Damit läuft es einmal mehr darauf hinaus, dass die schärfsten - und wichtigsten - Kritiker aller Parteiobleute der vergangenen Jahrzehnte sich nicht in die Pflicht nehmen lassen und aus ihren Reihen keines der drei vakanten Ämter besetzen: Diesen politischen Elchtest verweigert die Landeshauptmannriege beharrlich. Die Gründe liegen auf der Hand: Das (Mit-)Regieren in Wien ist grundlegend verschieden, vor allem aber ungleich schwieriger zu bewältigen als im eigenen Land.

Was in anderen föderalen Demokratien Selbstverständlichkeit ist, beschreibt in Österreich ein seltenes Ereignis: führende Landespolitiker, die einen Zug zur Spitze der Bundespolitik demonstrieren. Beispiele für einen solchen Wechsel von Landeshauptleuten lassen sich in der ÖVP an einer Hand abzählen - mit Blick auf die gesamte Historie der Zweiten Republik. Zuletzt verschmähte Josef Pühringer im Zuge der Koalitionsverhandlungen im vorigen Jahr das - erraten - Finanzministerium.

Der aktuelle Karriereschub für Mitterleh- ner erscheint angesichts der Verweigerungshaltung der Landeshauptleute mit Ironie behaftet: Sein parteiinterner Aufstieg war lange blockiert worden, der Sprung in den Nationalrat gelang ihm erst spät. Wesentlich schneller war er in der Hierarchie der Sozialpartner und des VP-Wirtschaftsflügels vorangekommen. Die lange Zeit kolportierte Poleposition des Mühlviertlers in Sachen Nachfolge von Landeshauptmann Pühringer erwies sich als Luftblase. Nun soll es der wiederholt Ausgebremste in schwerer Stunde an der Bundesspitze richten.

Maßgeschneidertes Angebot

Es wäre falsch, das Schicksal der Partei an ihrem Obmann festzumachen. Die ÖVP leidet wie alle etablierten Parteien unter frischen Konkurrenten, die maßgeschneiderte Angebote für enger definierte Wählersegmente legen: Freiberufliche Kreative wandern zu den Neos ab, mit Reallohnverlusten kämpfende Arbeiter suchen ihr Heil im Rechtspopulismus. Es bleiben jene, die den Herausforderungen des internationalen Wettbewerbs nicht direkt ausgesetzt sind: Beamte, Landwirte, Pensionisten.

Die ÖVP ist derzeit nicht in der Lage, eine umfassende Programm- oder auch nur eine Organisationsreform durchzuführen. Am ehesten hülfe die Einsicht, dass die ÖVP immer noch erstaunlich gut mit Widersprüchen aller Art lebt: Die Partei bewegt sich im ideologischen oder programmatischen Zentrum des Systems und wird selbst im Falle fortgesetzten "Herumgrundelns" (Pühringer) bei einem 20-Prozent-Stimmenanteil für eine mehrheitsfähige Koalitionsregierung benötigt werden.

Mitterlehner muss wichtige Repräsentanten der Partei zum konstruktiven Umgang mit dem Erbe der eigenen Regierungstätigkeit seit 1987 bewegen (" Schuldenmacherei", "abgesandelt"). Immerhin erkennen die meisten Landes- und Bündechefs in einer Regierungsbeteiligung noch immer eine Ultima Ratio für das organisatorische Überleben des Interessenvehikels Volkspartei.

Mitregieren aber ist unpopulärer denn je. Es wäre daher vermessen von parteiinternen Kritikern, weiterhin sklavisch an der Regierungsbeteiligung festzuhalten und zugleich demoskopischen Aufwind einzufordern. Weil in Österreich permanent auf subnationaler Ebene gewählt wird, ist eine Verhaltensänderung dennoch nicht zu erwarten. Es bleibt eine einzige Perspektive, innerparteiliche Stabilisierung zu finden: die realistische Aussicht auf den Kanzlerpokal. Das ist Mitterlehners Chance (oder jene eines Nachfolgers), ganz so wie sie sich Schüssel als frischem Obmann dargeboten hat. Die anhaltende Schwäche von Kanzler und Kanzlerpartei lässt dieses Szenario zu. (David M. Wineroither, DER STANDARD, 29.8.2014)