Der Super-GAU im Ukraine-Konflikt scheint einzutreten. Russlands Präsident Wladimir Putin hat sich offenbar entschlossen, durch den Einsatz russischer Soldaten die drohende Niederlage der Separatisten in der Ostukraine abzuwenden. Das ist eine offene Aggression und ein flagranter Bruch des Völkerrechts, wie ihn Europa seit dem Bosnienkrieg, eigentlich seit 1945, nicht mehr erlebt hat.

Dass alle Warnungen des Westens nichts genützt haben, um Putin von diesem Schritt abzuhalten, zeigt: Putin glaubt nicht daran, dass die EU, die USA und die Nato bereit sind, den hohen Preis zu bezahlen, den ein neuer kalter und sogar heißer Krieg im Osten Europas verursachen würde. In den vielen Telefongesprächen und beim Gipfel in Minsk nahm er die Politiker aus dem Westen nicht ernst. Das liegt einerseits an seinen Erfahrungen im Konflikt um Georgien und die Krim, andererseits an Putins pathologisch-aggressiver Persönlichkeit.

Den ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko sieht er hingegen als gefährlichen Gegner, den er stoppen will, bevor dieser Russlands Verbündete in Donezk und Luhansk vernichtet oder zu viel Unterstützung aus dem Ausland erhält. In Putins Welt gibt es nur Sieg und Niederlage - eine Verhandlungslösung, die immer noch möglich wäre, hat keinen Platz.

Für den Westen ist das die größte Herausforderung seit Jahrzehnten. Während die Terrormiliz "Islamischer Staat" Ordnung und Zivilisation im Nahen Osten bedroht, erwächst in Europa ein Konflikt, der an die Frühzeit des Kalten Krieges gemahnt. Und damals wie heute haben die USA und ihre europäischen Verbündeten keine andere Wahl, als Putins Fehdehandschuh aufzunehmen.

Verhandlungen mit Putin sind derzeit sinnlos, weil er jedem Gesprächspartner offen ins Gesicht lügt. Irgendwie muss ihm aber bewusstgemacht werden, dass er sich verkalkuliert hat, dass der Westen die Aggression nicht hinnehmen wird. Nur dann gibt es eine Chance auf Frieden.

Das geht wahrscheinlich nur mit einer weiteren Verschärfung der Sanktionen bis hin zum Abbruch aller Wirtschaftsbeziehungen mit Moskau, sowie mit direkter Militärhilfe für Kiew. Waffenlieferungen, die Stationierung von Nato-Truppen in der Ukraine bis hin zu US-Luftschlägen gegen Separatistenstellungen und russische Nachschublinien - alle Optionen gehören in diesen Tagen auf den Tisch.

Das ist höchst riskant, denn Putin ist nicht der Typ, der leicht zurückweicht. Die wachsende Kriegsgefahr bedroht die ohnehin schwache Konjunktur in Europa; das Blutvergießen in der Ostukraine wird kein Ende nehmen, und die Flüchtlingsströme werden anschwellen. Und am Ende dieses Eskalationsprozesses droht eine Konfrontation zwischen zwei Atommächten zu stehen.

Fast alle großen Kriege waren die Folge von Fehlkalkulationen zumindest einer Seite. Auch diesmal könnte das so enden.

Aber die Alternativen sind noch schlimmer. Wenn Putin aus der Ostukraine eine zweite Krim oder ein zweites Transnistrien machen kann, dann ist der Rest der Ukraine gefährdet, und in der Folge sind es dann wohl auch die baltischen Staaten und Polen. Je entschlossener sich der Westen in den kommenden Tagen zeigt, desto größer die Chance, dass Putin oder seine Berater doch noch begreifen: Im 21. Jahrhundert kann eine moderne Industrienation durch militärische Aggression nichts gewinnen. (Eric Frey, DER STANDARD, 29.8.2014)