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In ganzseitigen Anzeigen teilt Australiens Regierung Flüchtlingen mit, dass sie keine Chance auf Ansiedlung haben.

Foto: Reuters / David Gray

Canberra - "J'accuse" – "Ich klage an". Der Titel des Protestschreibens, das über 190 Menschenrechtsanwälte, Ethiker, Ärzte und Organisationen dieser Tage der Regierung Australiens übergeben haben, sagt alles. Der konservative Premierminister Tony Abbott verfolge eine brutale, inhumane Politik der Abschreckung von Asylsuchenden, "von Kindern und Erwachsenen, trotz klarer Beweise, dass daraus psychische Krankheiten resultieren, Selbstverstümmelung und Selbstmorde". Der Psychiater Peter Young ist noch direkter: Das Regime der "vorgeschriebenen Internierung von Bootsflüchtlingen" sei "der Folter gleichzusetzen". Young war für psychiatrische Dienste in den Lagern verantwortlich, bis er die Arbeit nicht mehr mit seiner Verpflichtung als Arzt in Einklang bringen konnte, Menschen vor Schaden zu schützen. "Wenn wir Folter als eine bewusste Schädigung von Menschen definieren, um sie zu einem bestimmten Resultat zu zwingen, entspricht Australiens System der Definition."

Bootsflüchtlinge sind Asylsuchende, die versuchen, auf dem Wasserweg nach Australien zu gelangen. Fast immer handelt es sich um Menschen aus Afghanistan, Irak und Iran, gelegentlich aus Sri Lanka. Die meisten steigen mithilfe von Menschenschleppern in Indonesien in ein kaum seetüchtiges Fischerboot. Es bringt sie in der Regel zur Weihnachtsinsel, australisches Hoheitsgebiet, aber Tausende von Kilometern vom Festland entfernt. Werden sie von der australischen Marine aufgegriffen, kommen sie in ein Hochsicherheitsgefängnis. Das Warten beginnt. Monate-, manchmal jahrelang – ohne jegliches Wissen, wann über das Asylgesuch entschieden wird. Diese chronische Unsicherheit sei maßgeblich dafür verantwortlich, dass ein wesentlicher Teil der Inhaftierten psychisch krank, ja selbstmordgefährdet sei, so Young. "Das System ist geschaffen, um einen negativen mentalen Zustand zu kreieren."

Geheimhaltung

Die Überfahrt ist eine Lotterie: 2010 starben 48 Asylsuchende, unter ihnen viele Kinder, als ihr Boot an der Küste der Insel in stürmischer See zerschmetterte. Kritiker fürchten, die wahre Zahl der Opfer solcher Tragödien sei um einiges höher. Entsprechende Anfragen bei Immigrationsminister Scott Morrison werden zurückgewiesen. Der Politiker beruft sich auf die Regel, wonach "alle Geschehnisse auf dem Wasser geheim" seien, denn "ich will den Menschenschleppern keinen Vorsprung geben". Auch in den Lagern herrsche eine "Besessenheit von Geheimhaltung", sagen Kritiker wie Young. Als die Menschenrechtskommission Beweise für den endemisch vorkommenden psychischen Schaden unter Internierten veröffentlichen wollte, sei sie von der Regierung angewiesen worden, die Zahlen zurückzuziehen.

"Abbott und Morrisons Politik ist nicht neu – sie haben sie nur weiter brutalisiert", sagt ein Flüchtlingshelfer. Seit den Neunzigerjahren, schon unter der vorherigen Labor-Regierung, gilt die Zwangsinternierung für Bootsflüchtlinge. Früher wurden sie vor allem in isolierte Lager in der australischen Wüste gesteckt, heute stehen Anlagen auf der Weihnachtsinsel und den isolierten Inseln Manus in Papua-Neuguinea (PNG) sowie im Pazifikstaat Nauru zur Verfügung. Dort leben die Menschen – unter ihnen auch Hunderte von Kindern – unter Bedingungen, die von unabhängigen Experten als inhuman, ja grausam beschrieben werden: ungenügende, überfüllte Unterkünfte, mangelhafte Ernährung, Wasserversorgung und Infrastruktur sowie ein Mangel an Schutz für Frauen.

Selbstverstümmelungen

Am stärksten leiden die Kinder: Laut der Präsidentin der australischen Menschenrechtskommission, Gillian Triggs, wurden zwischen Jänner 2013 und März dieses Jahres 128 Fälle von Selbstverstümmelungen oder Selbstmordversuchen durch Kinder gemeldet. 38 Kinder seien schon mehr als ein Jahr eingesperrt gewesen, meinte sie nach einem Besuch. "Sie bettelten uns an, ihnen unsere Kugelschreiber zu geben." Die Kinder hätten keine Beschäftigungsmöglichkeiten gehabt, seien apathisch gewesen und sichtlich psychisch geschädigt. In den Lagern herrsche ein System der "Entpersonalisierung", so ehemalige Wärter. Inhaftierte würden nicht bei ihrem Namen angesprochen, sondern mit ihrer Aktennummer. Canberra bezahlt PNG und Nauru hunderte Millionen Dollar für die Aufnahme der Inhaftierten.

Die humanitäre Organisation Save the Children schreibt in einem neuen Bericht von einer "systematischen Verletzung" der Menschenrechte asylsuchender Kinder im Lager auf Nauru. Das Papier berichtet von physischem, verbalem und sexuellem Missbrauch von Kindern, von ungenügendem Schutz für lokal angestellte Arbeiter sowie von verzögerter oder verhinderter medizinischer Versorgung. Mitglieder von Familien würden getrennt, psychisch schwer geschädigte Gefangene nicht oder ungenügend psychiatrisch betreut. Die Psychiaterin Louise Newman klagt, Lagerkommandanten konfiszierten von Neuankömmlingen rezeptpflichtige Medikamente. Als Folge habe ein dreijähriges Mädchen epileptische Anfälle erlitten. Ein Junge sei gezwungen worden, von den Lippen zu lesen, nachdem ihm sein Hörgerät entfernt worden war. Journalisten erhalten keinen Zugang zu Lagern, um solche Berichte bestätigen zu können.

UNO mahnt Konventionen ein

Die UNO, humanitäre Organisation und zahlreiche Experten lamentieren seit Jahren, wie extrem und im Widerspruch zu internationalen Konventionen stehend die australische Asylpolitik sei. Dabei habe Australien im Vergleich etwa zu Europa praktisch kein Asylproblem, rechnet Jane McAdam, Professorin an der Universität von New South Wales in Sydney, vor. In den fünf Jahren bis 2012 kamen pro Jahr durchschnittlich 2.831 Menschen per Boot in australische Gewässer. 2012 kam es zu einer kurzzeitigen Spitze, mit 17.202 Bootsflüchtlingen. Doch selbst diese Zahl entspreche nur einem Bruchteil der weltweiten Asylsuchenden, sagt McAdam. 2013 gab es rund um den Globus mehr als 51 Millionen Flüchtlinge. Australien nimmt über die Vereinten Nationen pro Jahr nur etwa 13.750 auf. Gleichzeitig akzeptiert das Land pro Jahr 190.000 Einwanderer, in der Regel hochqualifizierte oder wohlhabende.

"Wir werden die Boote stoppen" – nicht zuletzt dank dieses hunderte Male wiederholten Wahlversprechens hatte Tony Abbott im September 2013 die Wahlen gegen seinen sozialdemokratischen Widersacher, den damaligen Premierminister Kevin Rudd, gewonnen. Abbott hat seine Anhänger nicht enttäuscht. Seit Monaten hat es kein Boot mehr nach Australien geschafft, behauptet er. Allerdings nicht, weil sie nicht mehr ablegen würden, fürchten Kritiker. Die australische Marine schleppt die Boote ganz einfach wieder zurück in indonesische Gewässer. Diese von Jakarta verurteilte Praxis hat die Beziehungen mit dem nördlichen Nachbarn schwer geschädigt. Es ist nicht bekannt, wie viele Boote zurückgeschickt wurden oder ob welche dabei gesunken sind. Geheimsache.

Kreuzzug gegen nichtchristliche Ankömmlinge

"Kein Mensch ist ertrunken!", poltert Außenministerin Juli Bishop im Gespräch mit dem STANDARD. Wie andere Regierungspolitiker reagiert sie heftig auf Fragen zur Asylpolitik. Sie folgt dem Argument Morrisons, wonach die Politik der Abschreckung einen humanitären Hintergrund habe. "Seit Monaten ist kein Boot mehr in unsere Gewässer gekommen", sagte sie, "und das ist ja wohl gut!" Bishop erinnert daran, dass die Menschen das Boot in einem Land besteigen, in denen ihnen keine Gefahr drohe – Indonesien.

Damit verstärkt sie eine der Kernaussagen der Regierung: dass es sich bei den Bootsflüchtlingen um Leute handle, die "sich nicht in die Schlange stellen wollen". Abbott meinte jüngst, es sei "unchristlich", nicht den "geordneten" Weg über das UNO-Flüchtlingsprogramm zu gehen. Für Kritiker ist diese Aussage auch ein Beispiel dafür, dass die Regierung ihren Kampf gegen Flüchtlinge als eine Art Kreuzzug gegen nichtchristliche Ankömmlinge sieht. Der ehemalige Priesterseminarist Abbott und die Mehrheit seiner Kabinettsmitglieder verheimlichen ihre katholisch-konservative Ideologie nicht. Morrison gehört einer Pfingstgemeinde-Großkirche an.

"Es gibt auch keine 'Schlange'", erklärt Expertin Jane McAdam. In vielen Ländern und Flüchtlingslagern fehle eine UNO-Vertretung, bei der sich Asylsuchende melden könnten. Zudem gebe es viel zu wenige Plätze für Flüchtlinge. Bis alle gegenwärtigen Vertriebenen eine neue Heimat gefunden hätten, würde es 117 Jahre dauern, so McAdam. Solche rationalen Argumente zählen allerdings wenig in der öffentlichen Debatte. Trotz Kritik von der UNO und Menschenrechtlern: Abbott und Morrison wissen, dass sie das Volk hinter sich haben. In einer Umfrage sprach sich die Mehrheit der Australier für die Politik der Abschreckung aus. 60 Prozent der Befragten verlangten sogar, dass "die Härte der Behandlung von Asylsuchenden noch verschärft wird". Und dies, obwohl 90 Prozent aller Antragsteller schließlich als echte Flüchtlinge anerkannt werden – also einen legitimen Anspruch auf Asyl haben.

Fremdenfeindlichkeit

Die auch in der Öffentlichkeit immer aggressiver und mit fremdenfeindlichen Untertönen versetzte Opposition gegen Asylsuchende ist umso bemerkenswerter, als das moderne Australien eine der multikulturellsten Gesellschaften der Welt ist: Jeder dritte Bewohner ist entweder im Ausland geboren oder stammt von ausländischen Eltern ab. Der Wohlstand des Landes ist auch das Ergebnis der harten Arbeit von Flüchtlingen. Ob aus Auschwitz gerettete Juden oder Überlebende von Pol Pots Massakern: Seit dem Zweiten Weltkrieg hat das Land Zehntausende von Schutzsuchenden aufgenommen, die auf dem Kontinent durch harte Arbeit nicht nur eine Existenz für sich und ihre Familien geschaffen haben, sondern zu wichtigen Arbeitgebern für Australierinnen und Australier geworden sind. Fünf der acht Milliardäre Australiens sind selbst Flüchtlinge oder stammen von Vertriebenen ab.

Dass Politiker in einem Klima des "Wir gegen die anderen" punkten können, erklärt das Phänomen teilweise. Als Asylbewerberinnen jüngst Selbstmordversuche verübten, "um wenigstens ihre Kinder retten zu können", reagierte Premierminister Tony Abbott mit den Worten: "Ich glaube nicht, dass irgendein Australier wollen würde, dass wir vor moralischer Erpressung kapitulieren." Die Gründe für den Widerstand der Öffentlichkeit lägen aber nicht nur in politischem Populismus. Der Immigrationsexperte Stephen Castle meint, es sei die "tiefverwurzelte Angst vor einer Invasion aus dem Norden – aus Asien über das Meer", die mit zum Widerstand beitrage. So gilt die Zwangsinternierung nicht für Asylsuchende, die im Flugzeug nach Australien kommen – mehrere Tausend pro Jahr.

Medien spielen mit

Die Debatte wäre kaum so toxisch, wenn sich nicht der Großteil der Medien generell negativ über Asylsuchende äußern würde und unkritisch gegenüber der Regierung. Gegen die von Morrison regelmäßig gemachte Aussage, die Bootsflüchtlinge kämen "illegal" nach Australien, gibt es kaum Opposition in den Medien. Obwohl die Behauptung falsch ist, wird sie von Journalisten sogar wiederholt. Laut Artikel 14 der UNO-Menschenrechtsdeklaration hat jeder Mensch das Recht, in einem anderen Land um Asyl anzusuchen. Und Artikel 31 der Flüchtlingskonvention sagt, dass in anderen Fällen als "illegal" klassifizierte Methoden – etwa eine Ankunft ohne Visa – bei Asylsuchenden nicht als illegal gelten sollen. In den mehrheitlich konservativen Zeitungen und Radiostationen werden Flüchtlinge regelmäßig als gefährlich und faul dargestellt. Das Gegenteil ist der Fall: Asylsuchende machen sich im Durchschnitt 45-mal weniger häufig eines Verbrechens schuldig als der Durchschnittsaustralier. Die meisten schaffen sich bald nach der Ankunft eine wirtschaftliche Existenz.

Seit Abbotts Machtübernahme vor einem Jahr drücken in der öffentlichen Debatte häufiger die vielleicht wichtigsten Gründe für die Ablehnung durch: Fremdenfeindlichkeit und Rassismus. Wie ein politischer Kommentator jüngst meinte: "Wenn es sich bei den Leuten nicht um Muslime handeln würde, sondern um Weiße, die – wie wir – Rugby schauen, Bier trinken und Fleischpasteten essen, gäbe es diese Debatte nicht einmal." (Urs Wälterlin, derStandard.at, 30.8.2014)