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Über 1000 Kilometer lang ist die Frontlinie zwischen den Peschmerga (im Bild nahe Mossul) und der IS-Miliz.

Reuters / Youssef Boudlal

Die Totenstille dauert nur wenige Sekunden. Dann ist es wieder zu hören, dieses Rattern. Wie bei einer Baumaschine: ein Maschinengewehr. Es ist nicht klar, ob die Peschmerga oder die Islamisten jenseits der Brücke schießen.

Für Adel Rashid ist das noch lange kein Grund, seinen Monolog über Kriegsführung zu unterbrechen. Die selbsternannten Gotteskrieger des "Islamischen Staates" (IS) - sie sollen Rashids Freund bei lebendigem Leib die Nase und die Ohren abgeschnitten haben - liegen in nur wenigen hundert Metern Entfernung auf der Lauer, um seine kleine Peschmerga-Stellung zu überrennen. "Die warten nur darauf, uns umzubringen", sagt der Oberst. Und weil die Schießerei dann doch nicht aufhört, geht er hinaus, um nachzuschauen. Drei seiner Männer zielen. Atmen aus. Drücken ab. Bleiben ruhig. Alles in Ordnung.

Im Dorf Qwer, eine Autostunde und zahlreiche Checkpoints entfernt von der nordirakisch-kurdischen Stadt Erbil, warten Rashid und seine 17 Kämpfer darauf, den Angriff des Feindes aufzuhalten; ihn nötigenfalls auch umzubringen. Die Landschaft ist baumlos, weit und flach; überall liegt Müll herum. Ein paar ausgebrannte Autos stehen am Straßenrand. Erst vor drei Wochen haben die Kurden den Ort von den Jihadisten zurückerobert. Überall sind die Spuren der Gefechte noch zu sehen, die Mauern sind übersät mit Einschusslöchern. Lediglich das Vieh ist geblieben - und die Peschmerga, die Soldaten der autonomen kurdischen Region.

"Die dem Tod ins Auge Sehenden"

Peschmerga bedeutet "die dem Tod ins Auge Sehenden". Und die "Daisch", die arabische Bezeichnung für die IS-Miliz, ist ein harter Gegner für die Peschmerga: Das sind keine Krieger in Badeschlapfen, die bei der ersten Eskalation wegrennen; sie gelten als eine der reichsten Terrorgruppen der Welt. Die IS soll sich durch Ölgeschäfte, Entführungen, Enteignungen, Mautzahlungen sowie Spenden finanzieren.

Rashids Einheit hat in einem leerstehenden Ziegelhaus Quartier bezogen; vor der Tür ein Pick-up mit Maschinengewehr. Drinnen dünne, alte Matratzen, und zwischen Saft- und Kekspackungen lagern überall Maschinengewehre und Munition. Nirgendwo persönliche Gegenstände - weder Familienfotos noch Souvenirs, die an ein Zuhause erinnern. Für Sentimentalität ist hier kein Platz.

1050 Kilometer Frontlinie

Es ist Vormittag, kurz nach zehn Uhr. Der Kommandant steht mit Tee und Zigarette vor einer Karte, die fast von der Wand fällt. Er zeigt keine Angst, strotzt vor Selbstbewusstsein. Mit einem Stift deutet er von der syrischen Grenze aus in wellenförmigen Bewegungen schräg nach unten, an Kirkuk vorbei in Richtung Iran.

Insgesamt, so sagt der 43-Jährige mit dem weichen Gesicht, teile das autonome Kurdistan nun eine 1050 Kilometer lange Grenze mit der Terrorgruppe im Irak und in Syrien. "Die irakischen Soldaten sind abgehauen", höhnt er. Wären die Peschmerga nicht eingesprungen, "wären die Terroristen jetzt hier." Er lächelt spöttisch, es sind wieder Schüsse zu hören.

Einige von Rashids Männern tragen die traditionellen weiten Hosen, dazu die turbanartigen Tücher um den Kopf. Andere tragen Uniformen, wieder andere eine Mischung aus beidem. Alle haben sie aber eine Kalaschnikow.

Angriff jederzeit möglich

Draußen hat es an diesem Vormittag 45 Grad, Schatten gibt es nur im staubigen Haus. Auch wenn sich eine gewisse Schläfrigkeit breitgemacht hat, ist die Spannung doch greifbar. Die Jihadisten könnten jeden Moment angreifen.

Zu Rashids Einheit gehört auch Irfan. Der 18-Jährige hockt lässig auf dem Pick-up. Er ist fast noch ein Kind und hat für diesen Fronteinsatz sein Ingenieursstudium unterbrochen. Ob er eine Ausbildung an der Waffe habe? "Nein, aber die brauche ich auch nicht." Jeder Kurde sei ein Peschmerga, sagt der Volksmund. Er, Irfan, wolle für die Freiheit kämpfen, sagt er; auch für die Freiheit seines Glaubens. "Was soll das für ein Islam sein, für den Daisch mordet?", schimpft er. "Mit meinem Allah hat ihr barbarisches Verhalten nichts zu tun!"

Die Peschmerga sind kriegserprobt - als Kämpfer für die kurdische Unabhängigkeit reicht ihre Tradition bis ins Osmanische Reich zurück. Auch Frauen gehören ihnen an. Für das Kommando ist in Erbil ein eigenes Ministerium zuständig. Und in Suleimanija gibt es ein "Amt für kurdische Märtyrer", also für Angehörige von im Kampf Gefallenen.

Kampf gegen Saddam

Während der Diktatur Saddam Husseins kämpften sie gegen die Zentralregierung in Bagdad. Saddam antwortete mit dem Einsatz von Giftgas. Nach dem Krieg um Kuwait 1991 bekamen die Kurden eine autonome Region, geschützt von den USA durch eine Flugverbotszone.

Seit dem Krieg 2003 und Saddams Sturz sichern die Peschmerga die Außengrenzen des Autonomiegebietes. Dieses blieb vom Chaos im Rest des Iraks fast unberührt und konnte sich wirtschaftlich entfalten. Präsident Massud Barzani war selbst einst ein Peschmerga-Kämpfer. Bis heute zeigt er sich in der Öffentlichkeit gern in traditioneller Uniform.

Etwa 130.000 Soldaten sollen den Peschmerga angehören, schätzt der US-Thinktank Washington Institute. Andere Quellen sprechen von 200.000.

In Qwer flimmert die staubige Luft in der Hitze. Die Sonne steht hoch, keine Wolke am Himmel. Die Männer trinken Tee, rauchen, legen sich hin. Der Moment erinnert an Endzeitfilme, in denen die letzten Menschen auf der Erde auf den Feind warten, um endlich etwas machen zu können.

Endzeitliche Szenerie

Immer wieder sind Schüsse zu hören. Plötzlich ein lauter Knall. "Vielleicht irgendwo eine Explosion", sagt Rashid und zuckt mit den Schultern. Bei den Daisch gebe es viele gute Scharfschützen; etwa Tschetschenen, Afghanen, Pakistaner sowie Kämpfer aus Saudi-Arabien und Syrien, die sich mit dem Kämpfen auskennen. Aber auch radikalisierte Europäer, die zu allem bereit seien. "Wir haben noch nie gegen solche Fanatiker gekämpft."

Die Peschmerga kämpfen vor allem mit leichten und ziemlich alten Waffen. Ihre Ausrüstung stammt meist noch aus den Beständen der Saddam-Armee: AK-47 Kalaschnikows und Maschinengewehre. Panzerbrechende Waffen besitzen die Kurden kaum. "Ohne die Hilfe der Amerikaner hätten uns die Terroristen vielleicht schon vernichtet", räumt auch Rashid ein. "Unsere Gegner haben modernste Waffen: Panzer und Raketenwerfer. Und sie werden nicht müde." Den Peschmerga hingegen fehle es an allem. Auch an Bodentruppen? Rashid: "Wir nehmen jede Hilfe an, die wir bekommen können."

Unterdessen langweilt sich Irfan. Er zielt einfach nach vorne. Atmet aus. Drückt ab. Alles bleibt ruhig. Dann feuert er eine Salve in die Luft, Patronenhülsen kullern in den Sand. Er lacht, winkt dem Feind auf der anderen Seite der Brücke zu und macht das Victory-Zeichen. (Çiğdem Akyol aus Qwer, DER STANDARD, 30.8.2014)