Frustriert, antriebslos und keine Lust auf Sex: Depression kann bei Männer Aggression auslösen.

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Wütend und unwirsch fährt der Anwalt seine Frau an, sobald er nach Hause kommt – obwohl es keinen Grund dafür gibt. Die Frau kann seine Aggressivität nicht mehr ertragen. Sorgen macht ihr auch, dass ihr Mann stundenlang im Internet surft und immer mehr Alkohol trinkt. Der Hausarzt vermutet Internetsucht sowie eine zwanghafte Persönlichkeit und überweist den Mann an die Uniklinik in Zürich. Michael Rufer, dort Professor für Psychosoziale Medizin, findet durch einfühlsames Fragen heraus: Der Mann fühlt sich durch Misserfolge im Beruf gekränkt und hat Angst zu versagen. Er fürchtet sich vor dem Älterwerden, kann sich über nichts mehr freuen, ist mitunter ziemlich verzweifelt.

Außerdem hat er keine Lust mehr auf Sex. Mit weiteren gezielten Fragen kommt Rufer auf die Diagnose: Der Mann hat eine Depression.

"Depressionen werden bei Männern viel zu selten erkannt, weil die Krankheit sich bei ihnen mit Symptomen äußert, die man nicht gleich darauf zurückführt", sagt Rufer. Um die Diagnose zu stellen, müssen bestimmte Kriterien erfüllt sein. "Die sollten aber dringend überarbeitet werden, denn bei Männern passen sie häufig nicht so gut", sagt Rufer.

Alkohol als Ausweg

Daran liegt es offenbar, dass Depressionen bei Frauen doppelt so häufig festgestellt werden wie bei Männern. Doch Forscher von der Universität Michigan haben anhand der Daten von 5692 Männern und Frauen neue Diagnosekriterien zusammengestellt, gemäß derer Männer genauso häufig wie Frauen unter einer Depression litten – etwa jeder Dritte (Jama Psychiatry 2013, Bd. 70, S. 1100).

Neu hatten die Forscher unter anderem Wutattacken, aggressives Verhalten und Alkoholmissbrauch als Symptome aufgenommen – genau darunter litten in der Studie mehr Männer als Frauen. Letztere beschrieben dafür öfter "klassische" Depressionssymptome wie Schlaflosigkeit oder keine Freude mehr an Dingen, die früher Spaß machten.

"Man darf das aber nicht pauschalisieren", sagt Hans Grabe, Professor für Psychiatrie an der Universität Greifswald. "Auch bei Frauen kann sich eine Depression mit aggressivem oder gereiztem Verhalten äußern." Es gäbe weder eine typische Männer- noch eine typische Frauen-Depression, sagt Andreas Erfurth, Vorstand der 6. Psychiatrischen Abteilung am Otto-Wagner-Spital in Wien.

Angst vor Funktionsverlust

Männer würden aber oft nicht akzeptieren, dass sie wegen psychischer Probleme Hilfe bräuchten. "Männer meinen, immer funktionieren zu müssen. Wenn überhaupt, erzählen sie ihrem Hausarzt, dass sie sich nicht konzentrieren können oder öfter gereizt reagieren."

Hinzu käme, dass die Diagnose psychischer Krankheiten schwieriger sei als bei anderen Erkrankungen. "Einen Knochenbruch sieht man im Röntgenbild. Psychiatrische Krankheiten diagnostizieren wir aber anhand bestimmter Symptome, die Psychiater im Sinne eines Kompromisses vereinbart haben", sagt Erfurth.

Wichtig sei immer das psychische Gesamtbild. So kann eine Depression alleine auftreten, aber auch als sogenannte bipolare Störung mit einem Wechsel von manischen und depressiven Phasen. "Das ist wie Phasen von 'Burn' und Burnout", erklärt Erfurth. "Die Männer sind total erfolgreich und strotzen vor Kraft.

Aber auf einmal brechen sie zusammen und können nicht mehr." Die meisten Betroffenen würden aber erst im Burnout zum Arzt gehen. Dann gilt herauszufinden, ob es "nur" eine Depression ist oder ob der Mann unter einer "Mischform" leidet – denn das bedeutet eine andere Therapie. "Verschreibe ich bei einer Depression nur Antidepressiva und Psychotherapie, sagt der Mann danach vielleicht: ,Großartig, es geht mir fantastisch, ich habe meine Firma und meine Ehefrau wieder'", erzählt Erfurth. "Doch das nächste Burnout ist vorprogrammiert."

Medikamente als Muss

Bei einer agitierten Depression im Rahmen einer bipolaren Störung würde er dagegen zusätzlich Medikamente geben, die die Stimmung stabilisieren und vor neuen manischen Phasen schützen – kombiniert mit Psychoedukation. "Damit lernt der Mann Strategien, wie er mit seinen Gefühlswechseln umgehen kann."

Leide man als Angehöriger unter einem gereizten Partner, könne man versuchen, ihn in einer ruhigen Minute zu fragen, was hinter seinen Aggressionen steckt. "Das ist aber oft schwierig, weil der Betroffene sich schnell angegriffen fühlt", sagt Rufer. Ein gemeinsamer Besuch beim Hausarzt helfe manchmal.

Bei manchen Menschen mit Depression weiß jahrelang keiner, wie es in ihnen aussieht. Dann ist es auf einmal zu spät, wie bei dem deutschen Fußball-Torwart Robert Enke, der sich vor einigen Jahren das Leben nahm. "Der hat es auch in der tiefen Depression geschafft, seine Profi-Fassade aufrechtzuerhalten", sagt Grabe. "Aber tief in seiner Seele war es ganz schwarz." (Felicitas Witte, DER STANDARD, 2.9.2014)