Von der kindlichen Kritzelkunst...

Foto: derStandard.at

...zur Konferenzkritzelei.

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Rainer Klages zieht gerne mal eine Linie. Wenn ein Redner auf dem Meeting mit seinem Vortrag gerade besonders langweilt, gönnt sich der Wissenschafter wieder einen Strich, gleich darauf einen noch längeren. Auf einem Notizzettel entsteht ein feines Zickzackmuster. Die Linien verschwimmen, eine Fläche füllt sich, dann noch eine. Klages schaut auf sein Blatt. Auf dem karierten Papier zeigt sich eine fette Heuschrecke, so sieht es Klages wenigstens.

Der Mann ist Mathematiker an der Londoner Queen-Mary-Universität und verbringt viel Zeit auf Kongressen und Konferenzen. Dann entstehen seine "boring talk drawings", frei übersetzt Zeichnungen bei langweiligen Reden, kurz "Botadras" genannt. Klages hat einige seiner Nebenbeikarikaturen auf seine Internetseite gestellt, einen Fisch, der einen Wurm schnappt, eine Rose oder einen alten Akademiker.

Doodles

Sind die Krakelzeichnungen auf Zetteln, Zeitungsrändern oder Zigarettenpackungen nur Kritzeleien oder vielleicht doch kleine Kunstwerke? In Großbritannien, den USA und Australien heißen die Zeichnungen "Doodles" und werden dort sogar mit einem "National Doodle Day" geehrt. Am nationalen Kritzeltag sammeln die Fans der flüchtigen Skizzen ihr Geld und ersteigern die Bilder von Prominenten für einen guten Zweck.

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Kritzeleien auf einem nicht versendeten Brief von John Lennon.
Foto: Reuters/Winning

Sogar der englische Premier David Cameron steuerte ein kleines Wolkenschäflein bei. In Deutschland zieht die Kritzelgemeinde nach. Mitte März trafen sich die Fans der spontanen Skizzen in der deutschen Hauptstadt zur ersten "1000 Drawings Berlin Doodle Party". Die schönsten Malereien gingen Ende Mai ebenfalls für einen guten Zweck unter den Hammer.

Einer der Organisatoren ist Michael Laumer. Der Informatiker sammelt seit einiger Zeit seine eigenen Kritzeleien und die von Freunden. Auf der Facebookseite "Sitzungskunst" haben sie alle eine würdige Galerie. Laumer präsentiert nicht nur die Bildnisse aus Büros, Sitzungen oder von zu Hause, sondern auch aus Filmen und Fernsehserien. Jean-Claude Van Damme krakelt während einer Pressekonferenz aus Spaß die Gesichter seiner Mitschauspieler und Kevin Spacey in "House of Cards" einen vor Kraft strotzenden Stier.

Interpretationssache

Laumer ist anspruchsvoll. "Zu einfach dürfen die Zeichnungen nicht sein", sagt er, "man muss ja ein bisschen was zum Interpretieren haben." Immerhin sind die meisten Strichskizzen ja keine Ausstellungsstücke, sondern banale Spiralen, Schnörkel oder Streifen.

Eigentlich gelten die Nebenbei-Zeichnungen als kurzweilige Ablenkung, und manche meinen, die Kritzler seien ohnehin nervöse Zeitgenossen, die sich einfach nicht auf das Wesentliche konzentrieren könnten.

Das dachte auch Alfred Gebert. Der Psychologieprofessor aus Münster ärgerte sich über seine Studenten. Der Hochschullehrer fand unter den Bänken der Studenten immer wieder Blätter mit vermeintlich schnöden Krakeleien. Offenbar lauschten die Kommilitonen seinen Referaten nicht so, wie er es sich gedacht hatte.

Der Professor wollte es genau wissen und sammelte die Kunstwerke aus der Vorlesung ein. Weil an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung vor jedem Studenten ein Namensschild steht, fiel das Zuordnen leicht. Er stellte fest: Die scheinbaren Nichthinhörer waren nicht die schlechtesten Studenten. Dann sollten die Studenten zu Versuchszwecken telefonieren. Einige von ihnen griffen gleichzeitig zum Stift, andere nicht.

Unterm Strich stellte Gebert fest: Die vermeintlich Abgelenkten waren bei seinen Tests die Besten. Sie merkten sich mehr als diejenigen, die offensichtlich aufmerksam dem Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung zuhörten. Wer kritzelt, kann offenbar sogar der bessere Zuhörer sein. Psychologen sprechen in ihrer ganz eigenen Sprache davon, dass der Mensch "ein optimales kognitives Erregungsniveau" brauche.

Faule Ausrede

Einfach nur hinhören unterfordert also manchmal die Sinne. Es ist sogar so, dass die Ablenkung überschüssige Energie verbraucht und den Geist am Abschweifen hindert. Kritzeln hilft also der Konzentration. Alfred Gebert allerdings warnt, wenn man ganz in seiner Zeichnung versinke, werde sie "zur Hauptbeschäftigung". "Ist die Kritzelei zu schön, war der Urheber nicht mehr aufmerksam."

Botadras-Macher Klages meint, das mit dem Mehr an Konzentration sei eine "faule Ausrede". Er selbst sei beim Kritzeln "in einer Art Zwischenwelt, nicht zu 100 Prozent beim Vortrag, aber auch nicht zu 100 Prozent beim Zeichnen".

Eine genaue Einordnung für die Kritzelzeichnungen zu finden, damit tut sich die Wissenschaft schwer. Für Georg Franzen, Kunstpsychologe aus Celle, sind es Malereien "ohne Bedeutungsabsicht und ohne technische Fertigkeiten". Sie entstehen nebenbei, direkt am Verstand vorbei. Noch schwieriger ist es herauszufinden, was hinter den vermeintlich so wahllos hingepinselten Zeichen steckt. Schlummerte etwas tief in der Seele und zeigt sich nun als Kringel, Haken oder Spirale?

Ungelöste Probleme

Ohne den Zeichner und die Situation zu kennen, lässt sich das kaum sagen, sagt Psychologe Franzen. Das sei "wie in der Traumdeutung".

Trotzdem versuchen sich einige in der pauschalen Beurteilung der banalen Botschaften. Wer Gesichter male, sei humorvoll, wer Kästchen zeichne, ehe ein rationaler Typ, und Kreise deuteten auf Introvertierte hin. Schlingpflanzen stünden für ungelöste Probleme und Sterne für den Wunsch nach einer besseren Welt.

Alfred Gebert wollte ein bisschen mehr als Sternendeuterei und ließ seine Studenten die Kunstwerke ihrer Nachbarn beurteilen und erfuhr ähnliche Charakterisierungen. Kurven oder Spiralen sprächen für Schüchterne, Zacken und Spitzen für Aggressivität, und die Sternenkritzler wollten im Leben hoch hinaus. Aufpassen müsse man, sagt Gebert, wenn jemand ständig seinen eigenen Namen malt. Der sei nämlich sehr von sich selbst eingenommen.

Verschiedene Richtungen

Der Londoner Psychologe Jack Goodman geht noch weiter. Er interpretiert verschiedene Richtungen. Male jemand am rechten unteren Rand des Papiers, so stehe es nicht gut um sein Selbstbewusstsein, analysiert Goodman. Wer von links nach rechts zeichne, sei ein Schöngeist.

Das ist für den Psychologen Georg Franzen alles mehr oder weniger Kaffeesatzleserei. Nur der Kritzler selbst könne herausfinden, was er mit seinen Kringeln denn gemeint habe. Am besten auf der Freud'schen Couch mit Assoziationen, Fragen und Nachfragen. Dabei könne herauskommen, dass ein gekritzelter Stern für den einen ein Glückssymbol ist, während der andere an ein früheres Erlebnis denkt.

Für die Konferenzkunst braucht es mittlerweile übrigens nicht mehr nur den Kugelschreiber und schnödes Papier. Auf dem stets präsenten Smartphone locken zahlreiche Kritzel-Apps. Medienmann Michael Laumer hat noch einen Tipp: "Vorsicht! In sehr kleinen Runden kann Sitzungskunst störend wirken und einen gelangweilten Eindruck erwecken." (Oliver Zelt, Rondo, DER STANDARD, 5.9.2014)