"Die unerträgliche Atmosphäre einer kollektiv im Namen der “Ethik” verharmlosten Hetze muss weiterhin geächtet werden, bis Normalität einkehrt. #GamerGate bewirkt, allen guten Absichten einzelner Vertreter zum Trotz, das absolute Gegenteil davon. Videospiele, die Industrie und die ihr angeschlossenen Medien brauchen keine Umstürze, sondern Weiterentwicklung. Es lebe die Evolution."

Screenshot: Grand Theft Auto 5

Spiele liegen Millionen Menschen am Herzen. Mit aller Leidenschaft verfolgen sie ihr Hobby, verteidigen es gegenüber oft Ahnungslosen, freuen sich über den Austausch mit Gleichgesinnten und informieren sich auf Blogs, Spieleseiten, YouTube und in Foren über das junge Medium. Spiele sind für viele eine emotionale Angelegenheit und viel mehr als “nur” Zeitvertreib. Das ist auch der Grund, warum im Fall von Konflikten die Wogen so hoch gehen: Es fällt schwer, rational zu sein, wenn man sich persönlich angegriffen fühlt.

Unter dem Twitter-Hashtag #GamerGate versammeln sich seit einiger Zeit zornige Spieler, ursprünglich hauptsächlich aus dem englischen Sprachraum. Sie tragen einen Konflikt aus, der für sie bitterernst, persönlich und eben höchst emotional ist. Es herrschen revolutionäre Aufbruchsstimmung, Aufgeregtheit, Zorn, Überzeugung, Euphorie, bitterer Hass und glücklicher Optimismus; Durchhalteparolen werden ausgegeben. Und ja: Die allermeisten der Teilnehmer sind ehrlich besorgte Spieler, die ihr Medium in Gefahr sehen und durch ihre Teilnahme am Hashtag-Gewitter etwas Gutes bewirken wollen.

Was exakt die Twitter-Revolution der Gamer allerdings bewirken soll, ist, wie bei rein auf Social-Media konzentrierten Massenbewegungen üblich, oft nicht ganz klar: Es geht gegen “Korruption” und “Nepotismus” im Gamesjournalismus; gegen Vorverurteilung der Spielerschaft als misogyn und sexistisch, aber zugleich auch gegen den unheilvollen Einfluss von Feminismus und “Social Justice Warriors”, “Gutmenschen”, auf den Spielejournalismus oder gar die ganze Branche. Die aktivsten #GamerGate-Verfechter zeichnen akribische Verschwörungsdiagramme, auf denen sie die vermeintliche Verfilzung einer geheimen Gemeinschaft von Journalisten, (Indie-)Entwicklern oder gleich der gesamten Presse nachzuweisen glauben.

Paranoide Echokammer

Es gibt mehrere Anlässe für diesen Shitstorm, der so lange von großen Seiten ignoriert wurde, dass dies für viele #GamerGate-Aktivisten gar der Beweis der Korruption aller Medien insgesamt war. Diese Anlässe sind auch der Grund, warum lange Widerwillen bestand, darüber zu berichten. Hier eine Kurzversion: Eine Indie-Entwicklerin, die zur Abwechslung in diesem Artikel einmal nicht namentlich nochmals erwähnt werden soll, wurde von ihrem Exfreund öffentlich der Untreue beschuldigt.

Mehr noch: Sie habe sich mit sexuellen Gefälligkeiten bei Journalisten eingeschmeichelt. Es folgte eine beispiellose Online-Kampagne gegen die Entwicklerin, in der in immer wieder neuen YouTube-Videos Stimmung gegen sie gemacht wurde und immer neue angebliche Verfehlungen mit fragwürdigen “Beweisen” belegt wurden. Nacktbilder und ihre privaten Daten wurden veröffentlicht, es gab endlose Belästigungen, Mord- und Vergewaltigungsdrohungen, Verleumdungen, die bis jetzt anhalten. Die Wut richtet sich gegen einen “inneren Zirkel” an Gamesjournalisten und (Indie-)Entwicklern, die auch massivst von Online-Belästigungen und Drohungen betroffen sind. Und das, obwohl man eigentlich, so das Selbstverständnis von #GamerGate, ja nur Korruption und Nepotismus in der Spielepresse bekämpfen wolle.

Was fehlt: Beweise

Dass über diese angeblichen “Korruptionskandale” in den großen Medien der Branche nicht oder nur im Zusammenhang mit den sexistischen Angriffen gegen die Entwicklerin berichtet wurde, hat einfache Gründe: Zum einen beschränken sich die vorgeführten Beweise für das Fehlverhalten auf wacklige Indizien, fragwürdige Screenshots und Aussagen des zornigen Ex - eine Mischung, bei der jedes noch so waghalsige Boulevardmagazin mit Veröffentlichung zögern würde. Selbst aussagekräftigere Beweise würden aber als Argument kaum ausreichen, um das Ausbreiten intimer Details des Privatlebens einer Entwicklern zu rechtfertigen, die kaum als Person öffentlichen Interesses gelten kann.

Für das öffentliche Behaupten angeblicher Verfehlungen aufgrund von Hörensagen und rachsüchtigen Exfreunden gibt es hingegen die legal relevanten Begriffe “Rufmord” und “Verleumdung”. Es braucht keine “Korruption” der Presse, um hier etwas zu “vertuschen” - nur Hausverstand sowie eine Abscheu vor der irrationalen Hexenjagd eines von außen gesehen rabiat agierenden Mobs.

Und wieder: Sarkeesian

Unmittelbar im Anschluss an diese Unappetitlichkeit sorgte die erneute, diesmal noch heftiger ausfallende Kampagne gegen Anita Sarkeesian für weiteren Zündstoff in der Diskussion. Die feministische Kulturkritikerin fand sich diesmal unversehens als “Beweisstück” in der Verschwörung von #GamerGate wieder. Dabei hörte man die bereits altbekannten Argumente: Nur durch Manipulation würde sie ihre These untermauern, in Spielen fänden sich vermehrt misogyne oder sexistische Elemente. Die Videos, die an dieser Stelle den erneuten Vorwurf der “Korruptheit” der “Social Justice Warrior”-Agenda belegen sollen, werden schon viel länger bei Debatten gegen die Feministin als “Beweise” ihrer Unredlichkeit verwendet. Wie weit es mit der Argumentationslogik ihrer lautesten Videokritiker her ist, lässt sich übrigens anhand dieser vernichtenden Dekonstruktion der Sarkeesian-Kritiker nachvollziehen.

Dass Teile der Diskussion bei #GamerGate sofort vom angeblichen “Korruptionsskandal” nahtlos zum konzertierten Angriff auf Sarkeesian umschwenkten, zeigt das Hauptproblem der “Bewegung”, deren Vertreter sich vergeblich bemühen, wieder und wieder den aggressiven Sexismus vieler ihrer Mitglieder zu leugnen oder zu relativieren. Da nützen auch sicher ernstgemeinte gegenteilige Beteuerungen mancher #GamerGate-Verfechter wenig: Eine “Revolution”, die als Hauptanlass die öffentliche Vernichtung einer Frau aufgrund ihres Sexuallebens hatte, kann das aggressiv misogyne Verhalten einiger ihrer Vertreter nicht als Ausrutscher einiger Extremisten abtun. Das Boot, in das sich viele besorgte Spieler, ganz ohne Frauenhasser zu sein, hier gesetzt haben, wurde von ebensolchen vom Stapel gelassen.

“The End of Gamers” ...

Auf Aktion folgt Reaktion: Manche Games-Journalisten, von tatsächlich sexistischen, aber auch ehrlich um die Integrität ihres Mediums besorgten Spielern pauschal als korrupt verurteilt, sahen in den Hasskampagnen gegen Frauen in der Branche nicht ganz zu Unrecht die Handschrift eines radikal antifeministischen, reaktionären Anteils der Spielerschaft, der jenes Banner erhoben hatte, unter dem sich nun auch andere Spieler versammelten.

Vor etwa einer Woche, am 28. August, äußerten sich als Reaktion Autoren mehrerer Games-Seiten mit inhaltlich ähnlich argumentierenden Artikeln zu Wort: Die Aufregung und Überreaktion der Spielerschaft sei auf Angst zurückzuführen - jene zum Großteil männlichen, weißen Spieler, von denen die Angriffe ausgehen und die sich traditionell als Hauptzielgruppe der Industrie und somit des ganzen Mediums verstehen, sehen sich zunehmend von “ihren” Medien nicht vertreten und würden sich nun mit Hass und Aggression gegen die vermeintlichen “Eindringlinge” wehren - nicht zufällig weibliche Entwickler und Kritiker.

… ist lediglich das Ende einer Monokultur

Das Argument der meisten dieser Artikel ist schlüssig: Die Zeit der Monokultur, in der weiße, junge Männer die Hauptzielgruppe sowohl der Industrie als auch der Presse waren, ist vorbei. Der immer wieder und aus aktuellem Anlass unter Beweis gestellte Sexismus dieser technisch geprägten Eskapismuskultur, die sich selbstbewusst als “Gamer Culture” missversteht, macht für den riesengroß angewachsenen Rest der Spielerschaft eine Distanzierung von diesem Selbstverständnis des “Gamers” unvermeidlich. “Videospiele leben nun in der großen Welt, und es gibt kein Zurück”, schreibt Dan Golding in seinem Artikel “The End of Gamers”. “Von nun an gibt es keine ‘Gamer’ mehr - nur mehr Spieler.”

Die Welt, so muss man zustimmen, hat sich weitergedreht: Heute spielen mehr Menschen als je zuvor, Menschen unterschiedlichsten Geschlechts, diverser Nationen und jeden Alters. Die einheitliche Identität des “Gamers”, wie sie jahrzehntelang Realität war, ist am Ende. Es gibt keine einzelne Gruppe, die für sich beanspruchen kann, für “alle Spieler” zu sprechen oder besondere Rechte, Privilegien und Territorien zu besitzen. Das müssten auch die alten Gatekeeper akzeptieren - doch stattdessen wird dieser Wandel als Verschwörung wahrgenommen und mit Hass und Aggression bekämpft.

Gesprächsverweigerung und -unmöglichkeit

Die Artikel, die als Abrechnung mit einem kleinen, aggressiven Teil der Spielerschaft gedacht waren, wurde im Sinne der von #GamerGate verbreiteten Verschwörungslogik zu einem Angriff der abgehobenen korrupten Journaille auf alle Spieler umgedeutet - da nützt es auch wenig, dass in den Texten davon keine Rede war und sich auch über 1000 Spielentwickler in einem offenen Brief gegen die Belästigungskampagne aussprachen. In einem sich selbst ins Hysterische steigernden Klima des fanatischen Eiferns verhärten sich seitdem die Fronten immer mehr, bis außer brüllenden Rundumbeleidigungen, Trolling auf beiden Seiten des Grabens und verbitterten Rückzügen kaum ein Gespräch mehr möglich scheint.

Es ist bis zu einem gewissen Grad verständlich, dass viele Spieler emotional auf vermeintliche Angriffe reagieren und mit #GamerGate ehrlich für ihr Medium eintreten wollen. Es sind wohl sogar die allermeisten. Wenn aber “Korruption” und “Ethik” die Themen dieser “Revolution” sind, warum wird dann das angeblich zu intime Verhältnis zwischen einigen bedeutungslosen Indie-Entwicklern und Journalisten als Riesenproblem wieder und wieder thematisiert - und nicht zum Beispiel jene Millionenbeträge, die von Marketing-Abteilungen großer Publisher die Haupteinnahmequelle der Presse und einer wachsenden Anzahl von “Games Personalities” auf YouTube bilden?

Dass nach der vermeintlichen Korruption nach wie vor im eher wenig lukrativen Indie-Sektor, in einer obskuren "Verschwörung" von Feministinnen und bei vorwiegend weiblichen Journalisten gesucht wird, während die bereits seit Jahren thematisierten engen Verknüpfungen im AAA-Sektor kaum erneut aufgekocht werden, gibt den entsprechenden Bemühungen aller Beteuerung zum Trotz nach wie vor einen unangenehmen Beigeschmack.

Hinausgemobbt

All jenen, die sich hier zu Unrecht beschuldigt fühlen, sei ein Blick auf die “Mitstreiter” und vor allem die Initiatoren dieser Hexenjagd dringend angeraten. Denn die stattfindende verbissene Hetzjagd auf Frauen in der Branche im Namen einer angeblichen “Gutmenschenverschwörung” macht #GamerGate trotz aller gegenteiligen Beteuerungen zu nichts mehr als einem im Kern sexistischen Hetzmob, der nicht zu Unrecht von außen als solcher wahrgenommen wird.

Dem Argument, “Extremisten” gäbe es “auf beiden Seiten” stehen inzwischen zahlreiche Opfer hauptsächlich einer Seite gegenüber, nicht zufällig meist Frauen, die sich unter der psychischen Belastung der Hetzjagd aus dem Medium und der Industrie zurückgezogen haben. Diese Menschen, die im Unterschied zu ihren Angreifern nicht den Schutz der Anonymität im Netz genießen, werden nicht wegen “Korruption”, sondern wegen konzertierter Hasskampagnen aus der Diskussion und zum Teil aus der Branche gemobbt - im Namen einer “Bewegung”, die sich “Ethik” auf die Fahnen geschrieben hat.

Auch wenn die moderaten #GamerGate-Aktivisten - sicher die Mehrheit - diese Hetze verurteilen, bleibt sie doch der bislang einzig greifbare Effekt dieser “Bewegung”. Es ist auch leichter, unliebsame Frauen wegzupöbeln als die vielen diffusen Forderungen der moderaten Unterstützer in die Realität zu übersetzen. Zum Teil wird das sogar unmöglich sein.

Ein Weg voran

Denn in diesen “Forderungen” einer sich in tausend brüllende Einzelstimmen aufsplittenden “Bewegung” wie #GamerGate - so sie denn in greifbarer Form auftauchen - wird ein erschütterndes Ausmaß an Unkenntnis journalistischer Realität sichtbar. Die beklagte “Korruption” wird sich auch mit massivsten Protesten und Boykotten nicht einfach “abstellen” lassen, weil sie schlicht so nicht existiert. Der “Nepotismus”, der kritisiert wird, ist in den meisten Fällen die unvermeidliche Folge des Existierens in einer kleinen Nische, in der persönliche Bekanntschaft nicht nur unvermeidlich, sondern sogar essentiell ist; die “Objektivität”, die gefordert wird, mag im politischen Journalismus relevant sein, ist jedoch im kulturellen Meinungsjournalismus mit a priori subjektiven Kritikern schlichtweg unmöglich.

Dass sich das Schreiben über Spiele analog zum Wachsen ihrer gesellschaftlichen, politischen und künstlerischen Bedeutung vom pseudoobjektiven “Testen” weiterentwickelt hat, wird sich auch von kollektiven Verschwörungstheorien und Tobsuchtsanfällen nicht rückgängig machen lassen. Problematische Strömungen in Spielen oder auch von Teilen der Branche und Leserschaft anzusprechen, ist ironischerweise genau die Aufgabe eines objektiven Journalismus.

Spiele, das Medium, die Branche und der Journalismus brauchen keine “Revolution” von zweifelhafter Seite, bei der als Nebeneffekt überwunden geglaubte Mauern zur “realen Welt” wieder aufgebaut und Andersdenkende ausgesperrt werden. Es darf keine Rückkehr in eine Zeit geben, in der selbsternannte Gatekeeper Außenstehenden den Zutritt verwehren. Die meisten Spieler wollen nicht zurück in das alte Ghetto, aus dem das Medium gerade erst getreten ist.

Und: Die unerträgliche Atmosphäre einer kollektiv im Namen der “Ethik” verharmlosten Hetze muss weiterhin geächtet werden, bis Normalität einkehrt. #GamerGate bewirkt, allen guten Absichten einzelner Vertreter zum Trotz, das absolute Gegenteil davon. Videospiele, die Industrie und die ihr angeschlossenen Medien brauchen keine Umstürze, sondern Weiterentwicklung. Es lebe die Evolution. (Rainer Sigl, derStandard.at, 6.9.2014)