Eine Polizeistreife trifft in Clifton Park auf eine Gruppe erwachsener Männer und eine 11-Jährige. Das Mädchen wird wegen Trunkenheit festgenommen, von den Männern werden nicht einmal die Personalien aufgenommen.

Ein Kriminalbeamter schreibt einen Bericht über eine 12-Jährige: Diese habe mit mehreren erwachsenen Männern Sex gehabt, und zwar "in allen Fällen im Einverständnis". Geschlechtsverkehr mit Kindern unter 14 Jahren wird in Großbritannien automatisch als Vergewaltigung angesehen.

Eine Sozialarbeiterin betreut eine 14-jährige Schwangere. Zur Geburtsvorbereitung lädt sie den 24-jährigen Vater des Kindes ein, schließlich halte die Mutter den als gewalttätig bekannten Mann für ihren "Boy-Friend" - wie 17 andere Mädchen unter 16 Jahren.

Gefährliche Überkorrektheit

Drei Vignetten aus der englischen Stadt Rotherham mit drei Gemeinsamkeiten: Die Opfer gehörten zur weißen Unterschicht, die Täter waren pakistanischer Abstammung, die Angehörigen der diversen Behörden ignorierten klare Straftaten, von Bedrohung und Zuhälterei bis hin zu Massenvergewaltigungen. Insgesamt mussten in den Jahren zwischen 1997 und 2013 mindestens 1400 Mädchen in der 240.000-Einwohner-Stadt Sexualverbrechen über sich ergehen lassen.

Vergangene Woche legte ein detaillierter Bericht das beinahe unglaubliche Versagen von Politik, Kommunalverwaltung und Polizei offen. Seither gehen auf der Insel zwei Fragen um: Wie repräsentativ ist Rotherham? Und vor allem: Wie konnte es zu diesem Skandal kommen?

Auf die zweite Frage hat Untersuchungsleiterin Alexis Jay eine klare Antwort. "In vielen Fällen wurden Beweise unterdrückt oder ignoriert", resümiert die Professorin und nennt zur Begründung: Weil die Täter überwiegend pakistanischer Herkunft, ihre Opfer fast ausschließlich Weiße waren, schreckten Hilfsorganisationen und Strafverfolger vor dem Vorwurf des Rassismus zurück.

Weitere Opfer bekannt geworden

Man habe es mit "institutionalisierter Political Correctness" zu tun, erklärte die konservative Innenministerin Theresa May vor dem Unterhaus. Die Einstellung der Behörden in der früheren Stahlarbeiterstadt beschreibt der frühere Labour-Abgeordnete Denis MacShane mit dem Satz: "Man wollte das multikulturelle Boot nicht zum Kentern bringen."

Seit Professor Jays Veröffentlichung melden sich in den Medien immer neue Betroffene zu Wort, zwölf weitere Opfer haben bei der Kripo ausgesagt. Eine vom Innenministerium beauftragte Expertin hatte den Kommunalbehörden bereits 2002 Details zu damals etwa 50 minderjährigen Mädchen geliefert, die systematisch zur Prostitution abgerichtet wurden. Die Erkenntnisse der Expertin wurden missachtet, die Behörden drehten ihr den Geldhahn zu.

In vielen postindustriellen, von Hoffnungslosigkeit beherrschten Städten Nordenglands leben die weiße Mehrheit sowie Einwanderergruppen aus Pakistan und Bangladesch vielerorts ohne Berührungspunkte nebeneinander her. Im Klima von Sprachlosigkeit und gegenseitigem Misstrauen kann kein Dialog über Probleme entstehen, die eigentlich alle etwas angehen.

Dutzende Kinderheime

Gleichzeitig haben nordenglische Städte einen höheren Anteil von Jugendlichen aus chaotischen Verhältnissen. Seit Kinderheime vielerorts von Privatfirmen betrieben werden, ist es üblich geworden, Problemkinder in billigen Immobilien unterzubringen, die oft hunderte von Kilometern vom Heimatort entfernt liegen. Die 205.000 Einwohner zählende Stadt Rochdale bei Manchester bringt es auf 47 Kinderheime, mehr als die 14 innerstädtischen Londoner Bezirke (mit drei Millionen Einwohnern) zusammen.

Weil vielen jungen Mädchen jegliche Bindung fehlte, hatten die zunächst als "Lover-Boys" auftretenden Sexualverbrecher leichtes Spiel. Später hätten die Täter ihre Opfer "behandelt, als wären sie wertlos", urteilte ein Richter vom Krongericht Liverpool. Ähnlich verhielt sich vielerorts auch die Polizei. "Den Zeugenaussagen der Opfer wurde überhaupt kein Glauben geschenkt", analysiert Untersuchungsleiterin Jay.

Die Mutter eines vergewaltigten Kindes sagt bitter: "Die Polizei hielt die Mädchen für schmutzige kleine Schlampen." Vier Mitglieder der Labour Party wurden infolge des Skandals aus der Partei ausgeschlossen. (Sebastian Borger aus London, DER STANDARD, 6.9.2014)