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1994 holte Emese Hunyady Olympia-Gold für Österreich. Eislaufen gelernt hat sie in Budapest. Hinterm Lenin.
Wenn die Geschichte sich einmal die Weichen neu und noch dazu zum Guten gestellt hat, dann sind im Handumdrehen auch die Weichensteller da, die das Ganze als eigenes Verdienst ins historische Hauptbuch reklamieren. Das Jahr 1989 war diesbezüglich ein Paradebeispiel. Wer da nicht aller Schuld daran gewesen ist! Vom US-Präsidenten Ronald Reagan, der den Ostblock totgerüstet, bis zum polnischen Papst Johannes Paul II., der ihn gesundgebetet hat.
Ganz falsch ist das ja nicht. Es wäre nur auf ärgerliche Weise unvollständig, würde man es dabei belassen wollen. Historische Bewegungen werden ja von unzähligen Menschen angetaucht, herbeigeredet, auf zielstrebige Umwege geleitet. Alle, die das achte Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts bewusst miterlebt haben, werden sich an kleine, oft periphere Ereignisse erinnern können, in denen das noch ferne Jahr 1989 schon rumorte. Gedämpft zwar und dadurch verzerrt, aber jedenfalls retrospektiv unmissverständlich.
Magyarisches Heimspiel
Bei einigen dieser Ereignisse ist freilich schon im Augenblick klar gewesen, etwas Außergewöhnlichem beigewohnt zu haben. Am 17. April 1985 zum Beispiel im Hanappi-Stadion gegen Ungarn. Das hat ein wunderbares Team in die WM-Qualifikation für Mexiko 1986 geschickt: Márton Esterházy, Tibor Nyilasi, József Kiprich erzielte in Wien zwei, Lajos Détári ein Tor. Aber nicht die Deutlichkeit des 3:0 war das Außergewöhnliche, sondern dass es fast wie ein Heimspiel für Ungarn gewesen ist. Von den 20.000 Zuschauern kam beinahe die Hälfte von hinter dem Eisernen Vorhang. Und hinter den kehrten sie dann - siegestrunken - auch anstandslos zurück. Ein Wunder!
Eines, das sich nun sukzessive und an allen Ecken und Enden beschleunigen sollte bis hin ins "annus mirabilis". Die Fanfahrt nach Hütteldorf war sozusagen ein kleiner Finger. Zum Dank wollte man gleich die ganze Hand. Zuerst bloß spielerisch: im Fußball und in dessen erlebnisbezüglicher Wurzel, dem Theater.
Verknotet in Wien
Vieles von dem, was sich im so geschlossen wirkenden Ostblock tat, kreuzte sich ja in Wien. Und zuweilen verknotete es sich auch. Einer dieser Knotenpunkte war das Theaterbrett, das Nika Brettschneider und Ludvik Kavin den Wienern geschenkt haben als Fenster und Tür zum weiten Land hinterm Eisernen Vorhang. Die beiden Brünner waren Unterzeichner der vom späteren Präsidenten Václav Havel federfüh- rend redigierten Menschenrechts-Charta 77, in der CSSR etwas Strafbares. Brettschneider und Kavin gründeten mit dem erst vazierenden, dann bis heute in der Wiener Münzwardeingasse heimischen Theaterbrett nicht bloß eine Bühne, sondern auch einen Treffpunkt für untergrundige Gruppen aus dem real existierenden Sozialismus.
So kam in den 1980er-Jahren auch eine Budapester Pantomimentruppe nach Wien - in eine Stadt, die damals erst begonnen hat, auch in Forint zu rechnen.
Technologieembargo und Pantomimen
Man darf nicht vergessen, dass das Technologieembargo der USA und ihrer Verbündeten über der sozialistischen Welt hing. Menschen mit gültiger Ausreisebewilligung fuhren also mit Adressen versteckter, für den östlichen Markt sortierter Computergreißler nach Wien. Mit der Schilling-Gage arbeitete man dann die in Budapest erstellte Einkaufsliste ab und vervielfachte sich so das Honorar.
Die erwähnte Pantomimengruppe, Artus hieß sie, tat sich - nicht aus diesen Gründen, aber diese Gründe no na nützend - 1986 mit einer Wiener Partie zusammen. Als "Tanz- und Springtheater" war man 1987 Teil des "Heftigen Herbst", den die damalige Kulturstadträtin Ursula Pasterk als "Festival der freien Gruppen" ins Leben gerufen hatte. Oftmaliges Hin- und Hermüssen brachte schließlich eine permanente Reiseerlaubnis. Und die Sache verdichtete sich zur Gewohnheit. Ungarn gehörten in Wien allmählich ohnehin schon zum Stadt-, mit Artus dann auch erstmals wie selbstverständlich auch zum Bühnenbild.
Österreich freut sich über Olympiasiegerin
In dieser Zeit - Emese Hunyady trug sich mit dem Gedanken, Österreicherin und dann als solche Eisschnelllauf-Olympiasiegerin zu werden - begannen an den alten Wundlinien auch die Interna des Ostblocks hierzulande sichtbar zu werden. Die bis dahin so uniform wirkenden Länder zeigten Konturen. Und - gerade Ungarn - Ellbogen. Am ökologisch zweifellos ganz besonders irrwitzigen Donaukraftwerkprojekt Gabcikovo-Nagymaros riskierte schon die sozialistische Regierung, getragen vom allmählich wieder erwachenden Magyarismus, einen offenen Bruch mit der Tschechoslowakei - einen Bruch, der tief im bis heute gärenden ungarisch-slowakischen Missverhältnis wurzelt. 1989 wurde das ungarische Dammprojekt endgültig gestoppt. Gabcikovo wurde 1992 eröffnet; ein Jahr bevor sich die Slowakei von Tschechien trennte. Da gab es die wunderbare ungarische 86er-Mannschaft - ein verwehender Gruß der "arany csapát" der 1950er-Jahre - längst nicht mehr.
Am 15. November 1989 erkämpfte Österreich in Wien mit einem 3:0 gegen die DDR ein Ticket für die WM 1990 in Italien. Die Ostdeutschen hatten da ihren Kopf klarerweise ganz woanders. Nämlich in Berlin, wo ein paar Tage vorher das ganze Jahrzehnt im Mauerfall kulminiert war.
Neue Zeit
Die WM 1990 in Italien war dann eher nicht so erfolgreich. Teamchef Josef Hickersberger war gleichwohl unverdrossen zuversichtlich fürs Kommende - und für den Auftakt in die EM-Qualifikation sogar guter Dinge. Dieser ereignete sich am 12. September 1990. Es ging gegen die Färöer, eine nordatlantische Inselgruppe, von der nie zuvor jemand etwas gehört hatte. Österreich fand einen neuen Angstgegner.
Eine neue Zeitrechnung begann. Nicht nur, aber eben auch. (Wolfgang Weisgram, DER STANDARD, 6.9.2014)