In diesen Wochen wird der historischen Ereignisse vor 25 Jahren gedacht, die zum Fall des Eisernen Vorhangs und der Berliner Mauer führten. Vor einem Vierteljahrhundert war Europa im Aufbruch, neue Staaten bildeten sich. Es schien, als ob der Kontinent nach zwei Weltkriegen in eine friedliche Zukunft steuern würde. Dass dem nicht so ist, erleben wir derzeit. Die Welt scheint aus den Fugen geraten zu sein, es herrscht eine neue Unordnung. In der von Lisa Nimmervoll koordinierten Schwerpunktausgabe sind wir diesen Veränderungsprozessen nachgegangen. Durch die Ausgabe zieht sich eine Fotoinstallation: Lukas Friesenbichler und Simon Klausner haben historische Fotos auf eine Mauer projiziert. In diesen Tagen entscheidet sich auch, ob neue Mauern errichtet werden.

Alexandra Föderl-Schmid, Chefredakteurin

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Endlich frei! In der Nacht zum 11. September 1989 öffnete die ungarische Regierung für DDR-Bürger die Grenze zu Österreich – im Bild der Grenzübergang Nickelsdorf. In den nächsten Tagen reisten Zehntausende in die BRD aus. Es war das erste Loch im Eisernen Vorhang. Die Ungarn hätten dafür in Moskau nicht um Erlaubnis gefragt, sagte der KPdSU-Generalsekretär Michail Gorbatschow später.

Konzept/Foto: Lukas Friesenbichler, Simon Klausner // Originalfoto: picturedesk.com/APA/Keinrath

1 Loch bei Hegyeshalom im westungarischen Grenzgebiet war der Anfang: Am 2. Mai 1989 – ein halbes Jahr vor dem symbolträchtigen Fall der Berliner Mauer – schnitten ungarische Soldaten mit großen Zangen die ersten Löcher in den Stacheldraht, der als "Eiserner Vorhang" eine schier unüberwindliche Trennlinie durch Europa bzw. zwischen Westen und Osten gezogen hatte. Zwei Monate später, am 27. Juni 1989, wurde die Zaunszene für die Geschichtsbücher reinszeniert. Damit beendeten Österreichs Außenminister Alois Mock und sein ungarischer Amtskollege Gyula Horn symbolisch den Kalten Krieg.

Foto: Konzept, Foto: Lukas Friesenbichler, Simon Klausner // Originalfoto: Votava

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46 Jahre alt war Annemarie Reffert, als sie am Abend des 9. November 1989 als erste DDR-Bürgerin gemeinsam mit ihrer 15-jährigen Tochter Juliane die innerdeutsche Grenze am Grenzübergang Helmstedt/Marienborn überschritt. Genauer: überfuhr, denn die Narkoseärztin setzte sich um 21.15 Uhr unmittelbar nach der Verkündung der neuen "Reiseregelung" durch SED-Politbüromitglied Günter Schabowski in ihren Wartburg und fuhr los – "bloß gucken, ob die Grenze offen ist". Sie war offen, und Reffert kehrte als Erste in dieser Nacht auch wieder heim, denn "rüber" wollte sie nur "besuchsweise, niemals ganz".

Konzept, Foto: Lukas Friesenbichler, Simon Klausner // Originalfoto: picturedesk / picture-alliance / dpa / Jochen Lübke

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5 ...tausend DDR-Bürger befanden sich am 4. Oktober 1989 auf dem Gelände der deutschen Botschaft in Prag, aber auch draußen harrten an diesem Tag – im Bild zu sehen – rund 2.000 Ausreisewillige aus der DDR aus, um auch in den Westen zu gelangen. Am 30. September hatte der damalige Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher um 18.58 Uhr vom Balkon des Botschaftspalais den historischen Satz zu den unten Wartenden gesagt: "Liebe Landsleute, wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise ... (an dieser Stelle gab es tausendfachen Aufschrei und Jubel) ... in die Bundesrepublik Deutschland möglich geworden ist." Am 1. Oktober sind die ersten Züge aus Prag in Richtung BRD abgefahren.

Konzept, Foto: Lukas Friesenbichler, Simon Klausner // Originalfoto: picturedesk.com /dpa/Kemmether

6 ...tausend DDR-Bürger wählten den Weg über Polen, um von dort in den Westen zu kommen. Am 1. Oktober 1989 durften ausreisewillige DDR-Bürger von Warschau in die Bundesrepublik ausreisen, was zu langen Autoschlangen und Staus vor der Grenze führte. Mitte der 1980er-Jahre waren nur vereinzelt DDR-Bürger in die deutsche Botschaft in Warschau geflohen, im ersten Halbjahr 1989 waren es elf Personen, am 13. September 50. Tags darauf befanden sich 50 Ausreisewillige mit Kindern in der Botschaft. Am 19. September schloss die Bundesregierung die Botschaft wegen Überfüllung: 110 Flüchtlinge hatten Zuflucht gesucht.

Konzept, Foto: Lukas Friesenbichler, Simon Klausner // Originalfoto: Votava

1,5 Millionen Bürgerinnen und Bürger der DDR hatten im Sommer 1989 ihre Ausreise aus dem "Arbeiter- und Bauernstaat" beantragt. Sie wollten raus. Plötzlich tat sich eine Gelegenheit zur Flucht auf. Beim "Paneuropäischen Picknick" am 19. August 1989 in der Nähe von Sopron sollte ein Holztor an der Grenze symbolisch für drei Stunden geöffnet werden. Gegen Mittag rannten die ersten DDR-Flüchtlinge auf die österreichische Seite, später noch mehr – ohne von den ungarischen Grenzsoldaten gehindert zu werden. Bis zum Abend waren es zwischen 600 bis 700. Am 11. September 1989 öffnete Ungarn dann offiziell seine Grenze.

Foto: Konzept, Foto: Lukas Friesenbichler, Simon Klausner // Originalfoto: Votava

155 Kilometer lang war die Grenze zwischen der DDR und Westberlin, innerstädtisch 43 Kilometer, der "Außenring", der Westberlin von der DDR trennen sollte, erstreckte sich über 112 Kilometer. Am 13. August 1961 begann die SED, die Grenzen zuerst mit Stacheldraht, ein paar Tage später mit Mauern abzuriegeln. Zur Sicherung gab es u.a. 302 Beobachtungstürme mit schießbereiten Soldaten sowie 259 Hundelaufanlagen. Mindestens 138 Menschen wurden bis 1989 an der Mauer getötet oder kamen im Zusammenhang mit dem DDR-Grenzregime ums Leben. Am Abend des 9. November fiel die Berliner Mauer.

Foto: Konzept, Foto: Lukas Friesenbichler, Simon Klausner / Originalfoto: Votava

2 Tage dauerte der außerordentliche Parteitag der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED), bei dem am 8. und 9. Dezember 1989 in Berlin unter anderem ein Antrag auf Selbstauflösung zur Abstimmung kam. Er fand keine Mehrheit, dafür fand die SED einen neuen Vorsitzenden: Rechtsanwalt Gregor Gysi. An diesen Tagen fand auch ein EG-Gipfel in Straßburg statt, bei dem erstmals das Recht der Deutschen auf eine "Einheit durch freie Selbstbestimmung" akzeptiert wurde. Viele tschechische Bürgerinnen und Bürger nutzten den 8. Dezember 1989, einen Freitag, zum Einkaufsbummel in Wien.

Foto: Konzept, Foto: Lukas Friesenbichler, Simon Klausner / Originalfoto: Rudolf Semotan

6 Mal trafen die Nationalteams der DDR und Österreichs aufeinander. Die Bilanz (1:4:1) ist ausgeglichen. Dank des allerletzten WM-Qualifikationsspiels, das die DDR bestritt. In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 war die Berliner Mauer gefallen. Anton Polster war also am 15. November ein unmittelbarer Wendegewinner, als er in Wien den ostdeutschen Kickern allein ein qualifizierendes 0:3 bescherte. Österreich wurde Zweiter hinter der UdSSR. Ihr allerletztes Spiel bestritt die DDR ein knappes Jahr später, am 12. September 1990 gegen Belgien. Die DDR siegte 2:0. Beide Tore erzielte der heutige Bayer Matthias Sammer.

Konzept, Foto: Lukas Friesenbichler, Simon Klausner // Originalfoto: Votava

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50 DDR-Bürger haben am 13. August, dem Jahrestag des Mauerbaus, an einer Demonstration in Budapest teilgenommen, vermerkte ein Bericht des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit kritisch. Am 10. September gab Außenminister Gyula Horn die Tatsache der Grenzöffnung bekannt. Eine Sekunde nach Mitternacht wurde die ungarische Grenze am 11. September 1989 geöffnet. Rund 5.000 DDR-Flüchtlinge passierten in jener Sonntagnacht laut Schätzungen die Grenze nach Österreich und reisten von dort in die BRD. Bis Dienstag wurden es 15.000. Im Bild zwei DDR-Bürger am Grenzübergang Nickelsdorf am 11. September.

Konzept, Foto: Lukas Friesenbichler, Simon Klausner // Originalfoto: picturedesk.com / APA / Robert Jäger

60 ...tausend Soldaten der Roten Armee waren nach 1945 allein in Ungarn stationiert. Mehr als eine halbe Million in der DDR, an die 80.000 in der Tschechoslowakei und bis zu 50.000 in Polen. Am 9. Mai 1989 zog – im Bild zu sehen – ein Panzerregiment der "Roten Arbeiter- und Bauernarmee" aus Sárbogárd in Ungarn ab. 1991 trat das Land aus dem Warschauer Pakt aus, und im Juni 1991 war der Abzug der Südtruppe der Sowjetarmee komplett. Insgesamt war die Heimkehr der Roten Armee nach Russland eine logistische Großaufgabe. Allein der Abzug aus Deutschland – mit 3.000 Kasernen – dauerte drei Jahre und elf Monate.

Konzept, Foto: Lukas Friesenbichler, Simon Klausner // Originalfoto: Robert Newald

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100 ...tausend Besucher aus der Tschechoslowakei waren am 19. Dezember 1989 nach Wien gereist und nutzten die neue Freiheit, um an diesem Dienstag im Advent in der österreichische Hauptstadt einzukaufen oder nur "Westen schauen" zu gehen. Im Bild ein Ausschnitt aus einer Phalanx tschechischer Busse, die auf dem Stadion-Parkplatz abgestellt waren.

Konzept, Foto: Lukas Friesenbichler, Simon Klausner // Originalfoto: picturedesk.com / APA / Robert Jäger

17 Uhr, immer montags: Das war der traditionelle Termin der Friedensgebete in der Nikolaikirche und drei anderen Kirchen in Leipzig. Am 4. September 1989 fand im Anschluss daran die erste "Montagsdemonstration" statt, später auch in anderen Städten. Bei diesen Massendemos – unter dem Eindruck der Massenflucht vieler DDR-Bürger in den Westen – forderten hunderttausende Menschen Reisefreiheit und Menschenrechte. Das Bild ist übrigens auch am 4. September 1989 entstanden: Es zeigt DDR-Flüchtlinge, die es über Ungarn nach Österreich geschafft hatten. Ihre erste Station war eine in ein Bettenlager umfunktionierte Autohalle.

Foto: Konzept, Foto: Lukas Friesenbichler, Simon Klausner / Originalfoto: Votava

0 Probleme: Das war es, was Michail Gorbatschow, der als KP-Chef seit 1985 an der Spitze der Sowjetunion stand, am 3. März 1989 ankündigte, als ihm der ungarische Premier Miklos Nemeth mitteilte, dass Ungarn vorhabe, die Grenzen in den Westen zu öffnen: "Ich sehe da, ehrlich gesagt, kein Problem." Das passte zu Gorbatschows selbstauferlegten Leitmotiven für seine Politik, die auch das Verhältnis zwischen Ost und West entspannen und neu austarieren sollte: "Glasnost" (Offenheit) und "Perestroika" (Umgestaltung).

Überreste der Geschichte sind noch da: im Bild eine ungarische Grenzstation bei Hegyeshalom am 15. April 2014.

Konzept, Foto: Lukas Friesenbichler, Simon Klausner // Originalfoto: Robert Newald

242 Erstunterzeichner unterstützten die am 6. Jänner 1977 in der französischen Tageszeitung "Le Monde" veröffentlichte Proklamation der "Charta 77", die auf die Nichteinhaltung der Menschenrechte in der damaligen ČSSR aufmerksam machte. Einer der Initiatoren war der Schriftsteller Václav Havel, der am 21. Februar 1989 verhaftet, am 17. Mai freigelassen und am 29. Dezember 1989 zum Staatspräsidenten gewählt wurde. Trotz der repressiven Haltung der tschechoslowakischen Staatsführung fiel auch dort der Eiserne Vorhang – im Bild vom 17. Dezember 1989 bauen Soldaten den Zaun auf der Höhe von Laa an der Thaya ab.

Konzept, Foto: Lukas Friesenbichler, Simon Klausner // Originalfoto: Robert Newald

2 Stunden Fernsehprogramm pro Tag sendete das rumänische öffentlich-rechtliche Fernsehen im Revolutionsjahr 1989. Da war Nicolae Ceaușescu seit 22 Jahren Diktator, und Rumänien sollte das blutigste Kapitel des Jahres 1989 schreiben. Begonnen hatte der Aufstand in Timisoara (Temeschwar), der zweitgrößten Stadt des Landes, mehrere Unruhen waren blutig niedergeschlagen worden, schließlich schwappte die Revolution über auf Bukarest. Am 22. Dezember wurde Ceaușescus Sturz verkündet. Das Bild entstand zu Weihnachten in Timosoara. Einen Tag später, am 25. Dezember, wurde das Ehepaar Ceaușescu hingerichtet.

Konzept, Foto: Lukas Friesenbichler, Simon Klausner // Originalfoto: Votava

41 Jahre war die Grenze zwischen Österreich und Ungarn geschlossen. Am 19. August 1989 – beim "Paneuropäischen Picknick" – sollte sie sich für drei Stunden öffnen. Wer da noch nicht flüchtete, feierte, wie geplant, bei Pörkölt, Wurst und Speck, mit Wein und Bier mit den Veranstaltern von der Paneuropa-Union und dem Ungarischen Demokratischen Forum. Auch in den Tagen danach kamen viele DDR-Bürger via Ungarn und Österreich in die BRD – im Bild zwei Flüchtlinge mit einem westdeutschen Pass am 21. August 1989. Das Picknick hatte ein Holztor in den Westen für drei Stunden geöffnet – und noch viel mehr.

Konzept, Foto: Lukas Friesenbichler, Simon Klausner // Originalfoto:Votava