Die Islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGÖ) möchte in diesem Herbst ihre Arbeit ganz auf die Aufklärung über religiösen Extremismus unter jungen Muslimen konzentrieren. Vor allem durch die islamischen Religionslehrer. Sicher nicht zu früh, wenn man die jüngsten Schlagzeilen in den österreichischen Medien betrachtet: 130 junge Muslime aus Österreich haben sich dem Jihad in Syrien und im Irak angeschlossen, zum Teil als Kämpfer für den Islamischen Staat (IS).

Eine Handvoll 15- bis 16-jähriger muslimischer Mädchen sind unter ihnen, die inzwischen mit sogenannten Gotteskriegern verheiratet wurden. Täglich tauchen auf Facebook Hasspostings wie etwa das von "Fi Sa Bilillah" auf: "An alle yeziden die in Wien wohnen meldet euch bei mir", "Hab Messer extra geschärft". Die Berichte über "Hassprediger" in einer der großen Wiener Moscheen reißen nicht ab.

Grafik: Fatih Aydogdu, Quelle: "Muslimische Alltagspraxis in Österreich", Institut für Islamische Studien der Uni Wien 2013

Rund 574.000 Muslime leben jetzt in Österreich, das sind fast sieben Prozent der Bevölkerung (rund 203.000 davon sind österreichische Staatsbürger). Ein Anstieg um fast 70 Prozent seit der letzten Volkszählung 2001 (man muss dazu sagen, dass dies eine Hochrechnung des Instituts für Islam-Studien an der Uni Wien ist).

In Wien ist der prozentuelle Anteil noch höher: 12,5 Prozent oder rund 216.000 Personen. Im Straßenbild der größeren Städte sind die traditionellen Muslime und Musliminnen nicht mehr zu übersehen.

derStandard.at/hametner

Es gibt wissenschaftliche Projektionen, wonach der Anteil der Muslime im Jahr 2051 rund 26 Prozent erreichen könnte. Allerdings nennen das die Studienautoren vom Vienna Institute of Demography der Akademie der Wissenschaften selbst "unrealistisch". Realistisch ist wohl ein Anteil von 14 bis 20 Prozent.

Die Muslime und die Konfessionslosen sind die am stärksten wachsenden "religiösen" Segmente. Wien hatte laut dem Projekt WIREL (Wien/Religion) der Akademie der Wissenschaften bis in die 70er-Jahre eine starke katholische Mehrheit (1971: 78,6 Prozent). Heute sind es 44,4 Prozent. Die Zahl der Konfessionslosen stieg von 10,3 auf 29,7 Prozent an, jene der Muslime von 0,4 auf 10,7 Prozent. Jeder zweite Wiener Schüler hat eine andere Muttersprache als Deutsch. Muslime spielen da eine große Rolle.

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Kaleidoskop der muslimischen Präsenz in Österreich: Die Community drängt aus der Nische hin zu mehr politischem Einfluss - und muss sich gegen die Vereinnahmung von Extremisten wehren.
Fotos: STANDARD/Matthias Cremer, STANDARD/Robert Newald, STANDARD/Heribert Corn, APA/Techt

Solche Dynamik erzeugt Konfliktstoff. Nur ein Indiz: In den Internetforen (auch auf derStandard.at) haben islamische Themen überdurchschnittliche Zugriffsraten und lösen Wutpostings en masse aus.

Warum dieser Fokus auf Muslime? Die christlich-orthodoxen Serben werden ja sogar von der FPÖ umworben. Eine große, ja entscheidende Rolle dürfte die Tatsache spielen, dass sich die Muslime, so unterschiedlich ihre großen Gruppen in Österreich sind - Türken, Bosnier, Araber, Tschetschenen - immer noch stark über die Religion definieren, während das der größte Teil der Mehrheitsbevölkerung nicht mehr tut. Der Islam hält den Anspruch auf einen integralen Zugriff auf das Leben der Gläubigen zumindest formal aufrecht.

Zahlen nach Staatsbürgerschaft. Quelle: "Muslimische Alltagspraxis in Österreich", Institut für Islamische Studien der Uni Wien 2013

Das war zwar einst mit der katholischen Kirche auch so, aber selbst regelmäßige Kirchgänger lassen sich nicht mehr ihr (Sexual-)Leben von der Kirche vorschreiben. Und dann gibt es plötzlich eine große Gruppe, die sich - zumindest in der Überzeugung der säkularisierten Mehrheitsgesellschaft - einer als archaisch empfundenen Religion total unterwirft. Das befremdet.

Politisierung

Dazu kommt als relativ neues Phänomen eine Art politisierter Islam in Österreich. Er funktioniert in Österreich (noch?) nicht ganz so, wie Tariq Ramadan es seinen Glaubensgenossen empfiehlt: "Wir müssen noch viel besser lernen, was es bedeutet, Staatsbürger zu sein. Es heißt nicht, sich zu integrieren, es heißt vielmehr dazu beizutragen, aktiv sein."

Es gibt vereinzelte muslimische Abgeordnete im Nationalrat und in den Landtagen. Andere tauchen auf und verschwinden wieder, trotz relativ erfolgreicher Vorzugsstimmenwahlkämpfe. Der grüne Bundesrat Efgani Dönmez betont vehement die "Unterwanderung" von SPÖ- und ÖVP-Listen durch "türkische Nationalisten" oder Pro-Erdogan-Leute.

Demonstration auf dem Wiener Heldenplatz anlässlich der Gaza-Angriffe.
Foto: STANDARD/Fischer

Aber das eigentlich neue Phänomen ist, dass besonders in der türkischen Community der politische Islam plötzlich massiv auftritt, aber nicht als Teil einer österreichischen Partei, sondern als Ableger oder verlängerter Arm der türkischen Regierungspartei AKP und des nunmehrigen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Knapp hintereinander gab es diesen Sommer einen Auftritt von Erdogan in Wien vor tausenden begeisterten Anhängern sowie eine Demonstration gegen die israelische Kriegsführung in Gaza, zwar mit einigen arabischen Teilnehmern, aber mit einem türkischen Fahnenmeer. Organisator war in beiden Fällen die kleine, aber einflussreiche "Union europäischer türkischer Demokraten" (UETD). Angesichts der antiisraelischen und teilweise antisemitischen Parolen beeilte sich die UETD, den Rassismusvorwurf zu entkräften.

Tatsache bleibt, dass die Partei des zunehmend religiös-autoritären Erdogan in Österreich leicht mehr als 10.000 Menschen auf die Straße bringt (allerdings nicht so leicht an die Wahlurne: Die Wahlbeteiligung in Österreich für die Präsidentschaftswahlen in der Türkei lag bei 6600 von 90.000 Wahlberechtigten). Die türkische Gemeinschaft bildet die größte muslimische Gruppe und ist - mit Ausnahme der Kurden und der Aleviten - stark von nationalistischen Strömungen geprägt. Autoritäre, demokratieskeptische Ansichten sind unter jungen Männern stark verbreitet.

Liberale Kritiker wie Dönmez oder Birol Kilic von der "Türkischen Kulturgemeinde" sowie Amer Albajati von der "Initiative Liberaler Muslime" reiben sich an der offiziellen "Glaubensgemeinschaft" und bezichtigen sie, zu wenig gegen die Gefahr des Jihadismus und Fundamentalismus zu tun.

Distanzierung

Moussa Al-Hassan Diaw über die Motive von jungen Jihadisten.

Aktive Präventionsarbeit betreiben die Vertreterin der "Muslimischen Jugend", Dudu Kücükgöl, und der Religionspädagoge Moussa Al-Hassan Diaw. Im Video-Interview erklären sie, warum radikalisierte Jugendliche in den Jihad nach Syrien oder den Irak ziehen - und wie dagegen vorgegangen werden sollte.

Der neue Präsident der Glaubensgemeinschaft, Fuat Sanac, der aus der umstrittenen türkischen Gruppe "Milli Görüs" ("nationale Sicht") hervorgegangen ist, steht in der Kritik der Ultrakonservativen, weil er sich am Dialog mit Christen und Juden beteiligt. Dudu Kücükgöl hingegen nennt die Chancenlosigkeit und Diskriminierung der Jugendlichen als Jihad-Motiv.

Kücükgöl zu Jihadisten: "Diese Jugendlichen sind religiöse Analphabeten."

In wie vielen Moscheen wird der Hass gepredigt? In manchen kleinen, die nicht größer sind als Privatwohnungen oder Keller, zweifellos. In der großen Schura-Moschee in der Lasallestraße erregte kürzlich wieder der aus Palästina gebürtige Imam "Scheich" Adnan Ibrahim Aufsehen, der sein Publikum mit feuriger Rhetorik begeistert. Es kursieren Videomitschnitte seiner Predigten auf Arabisch, in denen er einerseits die Jihadisten der IS scharf verurteilt und andererseits die Kämpfer der Hamas lobt.

Tarafa Baghajati, Gründer der "Initiative muslimischer ÖsterreicherInnen" (IMÖ), verheiratet mit der Pressesprecherin der Islamischen Glaubensgemeinschaft, Gefängnisseelsorger und ständiger Gast bei vielen Dialogforen, sagt: "Wir wollen einen europäischen, pluralistischen Islam, nicht einen engstirnigen, der auf eine bestimmte Rechtsschule beschränkt ist. Wir müssen nicht nur die Sprache beherrschen, sondern auch die kulturellen Spezialitäten. Ich kann Elfriede Jelinek schwer lesen, aber ich muss wissen, wer sie ist."

Al-Hassan Diaw: "Jede Weltanschauung ist dafür geeignet, radikal zu werden."

Das klingt schon fast nach Assimilation, die der türkische Premier Erdogan bekanntlich als "Menschheitsverbrechen" bezeichnet hat. Wie repräsentativ jemand wie Baghajati ist, bleibt offen.

Aber das Institut für Islamische Studien an der Uni Wien unter Professor Ednan Aslan hat in einer aktuellen Studie erhoben, dass die "muslimische Alltagspraxis" gar nicht so uniform ist, es gibt Varianten von Abwendung von der Religion über pragmatischen Umgang bis hin zu Rückzug in die Religion.

Konservativismus

Dudu Kücükgöl: "Selbstverständliche Verurteilung von Gewalt".

Unbestritten haben jedoch die Muslime ein Element des Konservativismus und des Traditionalismus in die österreichische Gesellschaft gebracht. Eine immer noch recht autoritär geprägte Mentalität trifft auf eine noch autoritärere mit völlig anderen religiösen Wurzeln. Überdies orientiert sich ein Teil der Muslime an ausländischen politischen Vorbildern.

Jedenfalls sind die Muslime, wie Tariq Ramadan sagt, eine Tatsache. Mit der müssen alle umgehen lernen. (Autor: Hans Rauscher, Videos: Maria von Usslar, Grafik: Markus Hametner, Fatih Aydogdu, Florian Gossy, Produktion: Rainer Schüller)