
Richard Straub.
Wir leben in einer Zeit eines großen Paradoxons. Digitale Technologie mit ihrer exponentiellen Entwicklung bringt uns ein in der Menschheitsgeschichte bisher nie gekanntes Potenzial für Innovation - wie etwa neue Geschäftsmodelle, neue Industrien und Wirtschaftszweige, neue Lern- und Arbeitsformen.
Auch der Innovationsprozess selbst wird durch die Vernetzung von Mitarbeitern und Teilnehmern aus dem Ökosystem, verbunden mit offenen Kommunikations- und Interaktionsplattformen, revolutioniert. Gleichzeitig befinden wir uns jedoch in einer akuten Innovationskrise, über die selbst Silicon-Valley-Start-ups, auch wenn sie nach wenigen Jahren Existenz schwindelerregende Börsenwerte erreicht haben, nicht hinwegtäuschen können.
Von Quartal zu Quartal
Es fließen einfach zu wenig Mittel in wahre unternehmerische Innovation. Die Wall Street gibt den Takt vor - die Unternehmen, die die Gewinnerwartungen im Quartal nicht erreichen, werden postwendend mit Kurseinbrüchen bestraft. CEOs, die nicht in der Lage sind, den Aktieninhabern einen raschen Anstieg des Kurses zu bieten, bleiben nicht lange CEOs.
Die Bereitschaft, in längerfristige, risikoreiche Innovationsprojekte zu investieren, hält sich daher in engen Grenzen. Den klaren Vorrang bekommen Rationalisierungsprojekte, die Möglichkeiten der Informations- und Kommunikationstechnologien nutzen, um Kosten zu reduzieren und somit kurzfristige Gewinnverbesserungen zu erzielen. Die Shareholder-Value-Logik erfordert, dass das damit freigesetzte Kapital wiederum für weitere Verbesserungen von Effizienz und Produktivität eingesetzt wird. Clayton Christenson, der Vater der Idee der "disruptive innovation", hat dies überzeugend in seinem kürzlich im Harvard Business Review erschienenen Artikel "The Capitalist's Dilemma" beschrieben.
Dabei hatten die großen Gesellschaften nie so viele Mittel zur Verfügung wie heute. Die Cash-Bestände sind auf Rekordniveau, und zusätzliche Mittel werden über Kredite hereingeholt. Damit schwimmen zahlreiche Großunternehmen geradezu in Liquidität, deren überwiegender Teil jedoch für Aktienrückkäufe eingesetzt wird. Mit Aktienrückkäufen wird der Kurswert gepflegt, wie man so schön sagt.
Skandalöser Mechanismus ...
Man könnte auch von Manipulation sprechen, wenn derartig gewaltige Mittel zur kurzfristigen Gewinnmehrung von spekulierenden "Eigentümern" und dem Topmanagement selbst eingesetzt werden. Diese Situation ist skandalös und unhaltbar.
Mangelndes Wachstum und Beschäftigungsprobleme entstehen nicht auf dem Gebiet der makroökonomischen Stellgrößen, sondern im Betriebsgeschehen, im Alltag der Unternehmensführung.
... und ein Circulus vitiosus
Die Unzahl von Entscheidungen, die zur Mehrung oder Verminderung des Bruttosozialprodukts beitragen, werden letztlich von Menschen und somit im erheblichen Ausmaß von Managern der Wirtschaft getroffen. Wenn die Verantwortlichen von Großunternehmen diese primär als Cash-Machine zur Bereicherung von Aktionären und des Managements selbst betrachten, so trifft das die gesamte Wertschöpfungskette bis hin zum Kleinunternehmen, das von den Aufträgen der Großen direkt oder indirekt abhängig ist.
Wenngleich die wirtschaftlichen Entscheidungen weitgehend im privaten Sektor fallen, so kann man den staatlichen Bereich nicht aus seiner Verantwortung entlassen. Steuergesetzgebung, Innovationsanreize, Governance-Bestimmungen und soziale Normen spielen eine große Rolle.
Der einzelne Staat mag gegenüber internationalen Konzernen überfordert sein - nicht jedoch die Europäische Union. Europa hat seine Atouts als größter kohärenter Wirtschaftsraum der Welt bisher nicht eingesetzt. Wenn es jedoch Europa gelingt, sein Gewicht in die Waagschale zu werfen, dann hätte es Einfluss auf die globalen Rahmenbedingungen, unter denen die großen Weltmarktführer agieren, und könnte einen entscheidenden Beitrag zur Überwindung der Innovationskrise leisten, die letztlich eine der Kernursachen für Stagnation und Arbeitslosigkeit geworden ist.
Die EU müsste sich dazu jedoch selbst wachrütteln und die kleinkarierten nationalen Interessen in den Hintergrund stellen. Die Bankenkrise hat ein erstes Beben in der EU verursacht - vielleicht bewirkt die Innovationskrise den zweiten heilsamen Schock. (Richard Straub, DER STANDARD, 13./14.9.2014)