Bild nicht mehr verfügbar.

Ja oder nein zur Abspaltung Schottlands? Bis zuletzt divergierten die Meinungen in Edinburgh und in anderen Teilen im Norden des Vereinigten Königreichs. Die Entscheidung am Donnerstag wird jedenfalls knapp ausfallen.

Foto: REUTERS/Russell Cheyne

Edinburgh - Eine ruhige Unterhaltung ist hier kaum möglich. Alle paar Minuten geht die Klingel, stehen neue Freiwillige in der Tür des hellen Büros an Edinburghs Durchgangsstraße York Place. Manche holen Flugblätter ab, andere wollen die Infostände fürs Wochenende bestücken, zwischendurch scheppert das Telefon. Wie gut, dass Alan Campbell sich nicht aus der Ruhe bringen lässt.

Alle Störenfriede möchten entweder Informationen haben - oder sie teilen Campbells Meinung, die er durch einen riesigen Aufkleber auf seiner Brust dokumentiert. "Yes" steht da stolz in weißen Buchstaben auf Dunkelblau, den schottischen Nationalfarben: Der pensionierte Sozialhistoriker (65) und seine Freunde sagen Ja zur Unabhängigkeit ihrer Nation von Großbritannien. Am nächsten Donnerstag wird sich zeigen, ob die gut vier Millionen Wahlbürger den Schritt mitgehen. Bis dahin muss die Ja-Kampagne noch so viele Flugblätter wie möglich unter die Leute bringen, so viele Bürger wie möglich direkt ansprechen. In Campbells Büro ist Hektik also ausdrücklich erwünscht. "Je mehr Leute mich stören, umso besser", sagt er und lacht.

Unter den Nationalisten ist die Stimmung mit den jüngsten Umfragen stetig gestiegen. Jahrelang stagnierte der Anteil der Ja-Sager um die 30 Prozent; auch zu Jahresbeginn sagten die Umfragen einen klaren Sieg für die Bewahrer der Union voraus. Nun, wenige Tage vor dem Urnengang, haben mehrere Institute Zahlen veröffentlicht, die auf ein Kopf-an-Kopf-Rennen hindeuten. "Der Ausgang ist jetzt völlig offen", sagt Professor John Curtice von der Glasgower Strathclyde-Universität.

Auf eigenen Füßen stehen

Zwar bleiben viele Unsicherheiten, nicht zuletzt die immer noch große Zahl der Unentschlossenen. Doch die Separatisten geben sich optimistisch. "Wir sind auf dem Weg zu einer Sensation", freut sich ihr Anführer, Ministerpräsident Alex Salmond.

Schon jetzt hat sich das Land verändert. "So erfrischt wie nach einem Strandspaziergang an einem rauen Frühlingsmorgen", fühlt sich der Kolumnist Alex Massie. "Wir erleben einen souveränen Staat im Embryonalzustand", glaubt der englische Autor Simon Jenkins.

Vor dem geistigen Auge der Nationalisten ist Schottland bereits erwachsen: Mit den gut funktionierenden Schulen und Universitäten, dem Ölreichtum in der Nordsee, mit Tourismus und dem Milliardengeschäft Whisky könnten die 5,3 Millionen Menschen nördlich des Hadrianswalls gewiss auf eigenen Füßen stehen. Das gemeinsame Staatsoberhaupt Elizabeth II, die gemeinsame Währung, die Mitgliedschaft in EU und Nato wollen Salmond und seine Leute ausdrücklich behalten. Auf vielen Politikfeldern - darunter Justiz, Schulen und Gesundheitswesen - kann Edinburgh schon jetzt allein bestimmen.

Lohnt sich das Risiko?

Geht es nach den unionistischen Parteien, Labour, Konservative und Liberaldemokraten, wächst den Verantwortlichen der Nordprovinz in nächster Zeit noch erheblicher Spielraum zu. Die Alternative lautet also "weitgehende Autonomie" oder "eingeschränkte Unabhängigkeit". Lohnt sich das Risiko der Abspaltung von den Cousins im Süden, mit denen man seit Jahrhunderten eigentlich friedlich zusammenlebt?

"Die Zukunft bringt Risiken für Schottland mit sich, wie auch immer wir abstimmen", sagt Alex und schaut seinem Gegenüber treuherzig in die Augen. An einem Spätsommerabend steht der schmächtige Student auf der Schwelle eines Hauses in Glasgow-Baillieston, einen Stoß mit Ja-Flugblättern in der Hand. Offenbar kommen Alex' Argumente an, jedenfalls hört die Hausbesitzerin ihm fünf Minuten lang konzentriert zu. "Ich habe mich bisher viel zu wenig damit auseinandergesetzt", sagt Nadia Latif, "es wird Zeit, dass ich mir meine Meinung bilde."

42 Prozent im "Zentralgürtel"

In einer Hinsicht sind sich beide Seiten einig: Sie müssen Menschen wie Latif für sich gewinnen. Hier im Glasgower Osten, in den Mietskästen von Govan und Easterhouse, in kleinbürgerlichen Stadtteilen wie Baillieston wird die Abstimmung gewonnen - oder verloren. 80 Prozent der Bevölkerung konzentriert sich zwischen Ayr an der Atlantikküste und dem Nordsee-Hafen Dundee. Dieser sogenannte Zentralgürtel schließt sowohl Edinburgh wie auch den Großraum von Glasgow ein, wo allein 42 Prozent aller Schotten leben.

In Baillieston bleiben den Separatisten an diesem Abend viele Türen verschlossen. Eingefleischte Unionisten sprechen die Ja-Sager gar nicht an, "wir wollen keine schlafenden Hunde wecken". Eigene Unterstützer werden aufgefordert: "Könnten Sie nicht ein Plakat ins Fenster hängen?" Die Aufmerksamkeit gilt den Unentschiedenen, solchen wie Nadia Latif. Am Ende des Abends lautet die Bilanz: 99 persönliche Kontakte habe man in zwei Stunden gehabt. "Davon wollten 16 definitiv mit Nein stimmen, 23 mit Ja. Nicht schlecht." Der große Rest der Unentschlossenen, um den geht es.

Ein Tory unter 59 Parlamentariern

Unter dem Namen "Better Together" haben sich die drei landesweiten Parteien zusammengeschlossen. Alle drei gelten als gehandicapt. Viele Anhänger der Liberaldemokraten leiden unter der harten Realität ihrer ersten Regierungsbeteiligung seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Für die Konservativen von Premier David Cameron ist Schottland seit Jahren ein schwieriges Pflaster: Noch in den 1950er-Jahren schickte die Regierungspartei die meisten Unterhausabgeordneten nach London. Heute behauptet sich ein einziger Tory unter 59 Parlamentariern. Die brutale Schrumpfkur geht auf die schmerzhaften Wirtschaftsreformen der Premierministerin Margaret Thatcher in den 1980er-Jahren zurück. Spätestens seit damals dominierte die oppositionelle Labour Party die Politik im Norden. Deren neoliberaler Wirtschaftskurs und blinde Gefolgschaft für die USA, nicht zuletzt beim Irakkrieg, öffnete der SNP unter Salmond und dessen hochtalentierter Stellvertreterin Nicola Sturgeon die Tür. Die einst als "Tartan Tories" verschriene Nationalpartei, die sich als Sammelbecken für Konservative im Schottenrock verstand, hat sich mittlerweile einen sozialdemokratischen Anstrich verpasst.

Glänzend hat Salmond es geschafft, ähnlich der CSU in Bayern den Regionalstolz der Schotten für sich zu reklamieren. Allen Politikern aus London schlägt wenig subtil der Vorwurf entgegen, sie hätten keine Ahnung von den Verhältnissen im Norden. Wenn also Labour-Chef Edward Miliband um traditionelle Labour-Wähler wirbt, höhnt Salmond nur: "Der liegt doch mit den Torys im Bett!"

Sondermission für Gordon Brown

Dieses Problem trägt Milibands Parteifreund, der durch und durch schottische Ex-Premier Gordon Brown, nicht mit sich herum - weshalb das Unionslager im Endspurt auf den Veteranen setzt. Browns detaillierter Plan für weitere Autonomie soll den hochfliegenden Träumen der Separatisten ein Ende machen. Salmond und seine Leute behaupten unverdrossen, in Schottland werde alles besser, sobald das Andreaskreuz statt des Union Jack von der Edinburgher Burg flattert. "Ich wünschte, Alex würde ein häufiger auch von den Risiken sprechen", seufzen sogar SNP-Leute.

Alan Campbell in Edinburgh gehört nicht dazu. "Die Zukunft ist ungewiss, egal, ob wir mit Ja oder Nein stimmen", findet der Historiker. Er will weg von der "britischen Elite", die das Land regiert. Schottland sei anders: weniger leicht für Kriege zu begeistern, sozialer eingestellt. "Der Schwerpunkt des Landes liegt im Süden um London herum. Wir sollten uns selbst regieren." Spricht's und händigt einem willigen Helfer den nächsten Stapel von Flugblättern aus. (Sebastian Borger aus Edinburgh, DER STANDARD, 13.9.2014)