Wiener Verkehrsnetz 1903, inklusive Stadtbahn.

Folgende heutige Linien waren früher Teile des Stadtbahnnetzes:

S45 - Vorortelinie Hütteldorf bis Heiligenstadt
U4 - Donaukanallinie und Wientallinie
U6 - Gürtellinie
S-Bahn-Stammstrecke - Wien Mitte/Landstraße bis Praterstern

Foto: Gemeinde Wien

Wien - 1910 war Wien die siebentgrößte Stadt der Welt und die viertgrößte Europas. Noch regierte Kaiser Franz Joseph. Gustav Klimt prägte den Jugendstil, Sigmund Freud begründete die Traumdeutung, Arthur Schnitzler provozierte Theaterskandale, und Max Winter schrieb die ersten Sozialreportagen. Wien brachte um die Jahrhundertwende viele berühmte Persönlichkeiten hervor, die Liste erscheint endlos.

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Die Station Josefstädter Straße um 1910. Heute verkehrt dort die Linie U6. Die Stadtbahn existierte als Nahverkehrsmittel von 1898 bis 1989 und wurde später durch U-Bahn und S-Bahn ersetzt.

Der Linzer Historiker Roman Sandgruber spricht vom "Glanz der Ringstraßengesellschaft", der allerdings blendete. Denn von den 2.083.630 Einwohnern waren nur etwa 1000 Millionäre, die die Spitze der damaligen Gesellschaft bildeten. Der Rest waren Arbeiter, viele erst seit kurzem in der Stadt. Es herrschten raue Sitten, und der tägliche Kampf ums Überleben stand im Vordergrund.

Stadtbahn und Kanalnetz

In seinem Buch "Traumzeit für Millionäre" beschreibt Sandgruber die Biografien von reichen Kaufmannsleuten, Adeligen, Wissenschaftern, Bankleuten und Industriellen im Jahr 1910. 104 Jahre später profitiert Wien nach wie vor von der Zeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts, auch von den Infrastrukturmaßnahmen der damaligen Zeit, etwa der Stadtbahn. Teile sind bis heute erhalten, so verlaufen die U-Bahn-Linien U4 und U6 auf den ehemaligen Stadtbahn-Strecken. Die Stationen im Jugendstil wurden von Otto Wagner gestaltet und sind heute noch fester Bestandteil Wiens.

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Foto: APA/Neubauer

Otto Wagner Hofpavillon in Hietzing: Eine ehemalige Stadtbahnstation.

Bereits 1850 verfügte die Stadt über ein gut funktionierendes Kanalsystem. Es wurde später zum Schauplatz des Films "Der Dritte Mann" und bis nach Hollywood bekannt.

Taktung und Reizüberflutung

Der Wiener Historiker Peter Payer erkennt in der Zeit um 1900 durchaus Parallelen zu heute: "Die Stadt befand sich in einem Umbruch, es wurden neue Regeln für das Zusammenleben definiert." Erstmals waren die Menschen mit Taktung konfrontiert, und Pünktlichkeit spielte eine Rolle. Die ersten Würfeluhren wurden in der ganzen Stadt aufgestellt. Es gab Plakate und Werbebotschaften, und die Menschen fragten sich, wie sie mit der Reizüberflutung zurechtkommen sollten.

Foto: Czernin Verlag

Getaktete Stadt: 1905 gab es die erste Würfeluhr am Ring.

"Es ist kein Zufall, dass um 1900 die Lärmschutzbewegung entstanden ist" , sagt Payer. Die Verdichtung und das ständige Aufeinanderprallen von immer mehr Menschen mussten erst zur Gewohnheit werden.

Auch heute wird über das Verhalten im öffentlichen Raum diskutiert. "Denken wir an die Kampagne der Wiener Linien, die Benimmregeln herausgegeben hat." Dabei wurde etwa darauf hingewiesen, dass das laute Telefonieren am Handy zu vermeiden sei.

Verdichtungen und neue Stadtteile

Ein Thema war 1910 auch schon das Wohnen. Dafür gab es ähnliche Ideen wie heute. Wenn Planungsstadträtin Maria Vassilakou (Grüne) davon spricht, einerseits den Wohnraum verdichten zu wollen, andererseits neue Gebiete zu erschließen, ist es das, was auch um 1900 passierte: Die Geschossanzahl wurde erhöht und Eingemeindungen vollzogen.

Laut Payer kam es durch die "unglaubliche Dichte" an Menschen in der damaligen Künstler- und Wissenschafterszene zur gegenseitigen geistigen Befruchtung. "Mit der Menge der neuen Einwohner kam eine Fülle von neuen Ansätzen in die Stadt." In der "kollektiven Talenteschmiede" entstand eine Eigendynamik. Auch hier sieht Payer Ähnlichkeiten, denn danach würden auch die Kreativszene und die Start-ups heute trachten.

War Wien 1910 also ein "Silicon Valley des Geistes"? So bezeichnet jedenfalls der Innsbrucker Wissenschafter Allan Janik die Jahrzehnte zwischen 1890 und 1910 in Wien. (Rosa Winkler-Hermaden, DER STANDARD, 13.9.2014)