STANDARD: Alles redet davon, dass etwas dagegen getan werden muss, dass Jugendliche, die hierzulande aufwachsen, in den Jihad aufbrechen. Wie kommt Ihr neuer "Deradikalisierungsverein“ an die Gefährdeten heran?
Diaw: Indem wir mit den muslimischen Gemeinden zusammenarbeiten, indem wir zu Streetworkern Kontakt pflegen – und indem ich als Religionspädagoge auf Schüler und Studenten zugehe.
Schmidinger: Aufgrund meiner Lehrttätigkeit an der Uni und Vorträge zum Thema sind an mich Eltern und Lehrer herangetreten, die den Verdacht hegten, dass ihre Kinder bzw. Schüler in den Extremismus abdriften.
STANDARD: Wie kommt es, dass tschetschenische Asylwerber, Migrantenkids sowie einheimische Halbstarke bereit sind, in Syrien Menschen zu kreuzigen und zu köpfen?
Diaw: Ähnlich wie beim Rechtsradikalismus ist es oft so, dass es den Jugendlichen, die sich meist benachteiligt fühlen, anfangs um eine vermeintlich gerechtere Gesellschaft und Anerkennung geht. Bei den Konferenzen des Radicalism Awareness Network hat sich herausgestellt, dass sich diese Teenager im nächsten Schritt mitunter ins Auto setzen, unter dem Motto: "So, jetzt fahr’ ma nach Syrien!“, als ob das ein Abenteuerurlaub wäre – und dazu posten sie heroische Fotos, auf denen sie mit Waffen posieren.
Schmidinger: Das Ganze ist ein Schein-Empowerment, weil sich die jungen Leute einer Gruppe zugehörig fühlen, die die Welt in Angst und Schrecken versetzt.
Diaw: Sie suchen ihre Identität durch Abgrenzung zur Herkunfts- und Aufnahmegesellschaft – und wie gelingt das einigen Jugendlichen?
Schmidinger: Indem man nicht Neonazi wird, sondern Jihadist.
STANDARD: Ist das Internet nicht ein Fluch bei diesem Phänomen, weil so viele mit dem Gedankengut infiziert werden können?
Diaw: Das Internet ist für diese Gruppen ein hervorragendes Propagandainstrument – mit einfacher Symbolik kann man da Jugendliche ansprechen. Da wird etwa das Adidas-Logo mit dem Schriftzug von Al-Kaida versehen.
Schmidinger: Das Ganze hat popkulturelle Züge, trotz der mittelalterlichen Grausamkeiten.
STANDARD: Und gibt es auch sektoide Züge?
Diaw: Natürlich. Ein Merkmal ist, dass für sogenannte "Takfiris" der einzige Gesetzgeber Gott ist. Das heißt, sie erklären auch Muslime, die sich für Demokratie einsetzen, zu Nichtmuslimen.
Schmidinger: Auch wie Menschen gefischt werden, hat sektoiden Charakter – und wie mit einfachsten Erklärungsansätzen das gesamte Elend der Welt erklärt wird.
STANDARD: Die Burschen spricht die vermeintliche Stärke der Gruppen an – was macht diese für Mädchen attraktiv?
Schmidinger: Oft spielen Bekanntschaften im Internet mit jungen Jihadisten eine Rolle, da entsteht eine Quasiverliebtheit.
STANDARD: Wo passiert das Anfixen im realen Leben – auch in Moscheen?
Diaw: Es gibt wohl einige Gebetsräume, wo dieses Gedankengut vertreten wird, aber die Imame in den Moscheen haben eher das Problem, dass sie nicht verstehen, warum sich so viele Jugendliche von den tradierten Vorstellungen des Islam abwenden. Die Radikalisierung passiert überall dort, wo Menschen zusammentreffen: Das kann im Park sein, im Jugendzentrum, im Kampfsportverein, in der Schule.
STANDARD: Was tun, wenn jemand Jihadist werden will?
Schmidinger: Manchmal funktioniert es schon, wenn respektierte Bezugspersonen einwirken, indem man demjenigen zeigt, dass es für dessen Umfeld schmerzhaft wäre, wenn er in den Krieg zieht.
Diaw: Oft kommen Mütter zu mir, die sagen: "Mit meinem Sohn stimmt etwas nicht.“ Idealerweise spreche ich ihn dann selbst darauf an – und sage, dass diese Ideologien den Islam als Vehikel benutzen. Und auch, dass die Menschen da unten keine Ausländer brauchen, die mit dem Schießgewehr hinfahren.
STANDARD: Die ÖVP will den Verhetzungsparagrafen verschärfen, dazu das Tragen von IS-Symbolen verbieten. Bringt das etwas?
Diaw: Wenn wir nur die Symbole verbieten, bleibt die Idee trotzdem im Kopf. Aber wenn in einer Schule so etwas auf Kleidungsstücken auftaucht, sollte der Direktor klarmachen, dass er solche Werbeträger in seinem Haus nicht duldet.
STANDARD: Ziehen sich nach Ihrem Informationsstand viele Jugendliche die Enthauptungsvideos rein?
Schmidinger: Die Videos sind einfach verfügbar, dazu kommt, dass Jugendliche über die Mainstream-Medien darauf aufmerksam werden. Auch der STANDARD hat heroische Bilder der IS gezeigt. Die Medien bedienen diese Ikonografie.
STANDARD: Die Medien stecken da in einem Dilemma – wie lautet Ihre Empfehlung für mehr Sorgfalt bei der Berichterstattung?
Schmidinger: So wenig wie möglich Propagandabilder verwenden, die die Täter produziert haben.
STANDARD: Warum arbeiten Sie auch mit der umstrittenen nationalreligiösen Milli Görüş zusammen?
Schmidinger: Weil es notwendig ist, auch konservative Verbände mit einzubinden. Das ändert aber nichts an meiner kritischen Haltung ihnen gegenüber.
Diaw: Man muss die Leute dort erreichen, wo sie sich versammeln – und das gilt für alle muslimischen Verbände. (derStandard.at, 15.9.2014)