Ein Block, der (fast) keine Fragen unbeantwortet lässt – Eltern drücken sich oft vor klaren Ansagen oder vor Begriffen.

Foto: Klett Kinderbuchverlag

"Wenn es dir als Erwachsenem peinlich ist, dann lach darüber, thematisiere die Peinlichkeit", empfiehlt Sexualpädagogin Katharina von der Gathen den aufklärenden Eltern.

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Anke Kuhl illustratierte die auf Karteikärtchen geschriebenen Fragen.

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derStandard.at: In ihrem Buch "Klär mich auf", das gerade erschienen ist, beantworten Sie 101 Kinderfragen zum Thema Nummer eins. Welche Frage wird am häufigsten gestellt?

Von der Gathen: Oft kommt die Frage: Kriegt man jedes Mal ein Kind, wenn man Sex macht? Aber es gibt auch immer wieder ganz neue Fragen. Die Fantasie der Kinder ist groß.

derStandard.at: Die Kinder in ihrem Aufklärungsunterricht schreiben ihre Anliegen auf kleine Kärtchen …

Von der Gathen: … die sie dann in eine Fragenbox werfen. Ich gebe das Versprechen ab, jede Frage zu beantworten.

derStandard.at: Die Kinder sind zwischen acht und zehn Jahre alt. Ist das jenes Alter, in dem Aufklärung erfolgen sollte?

Von der Gathen: Meines Erachtens finden Sexualerziehung und Aufklärung eigentlich ständig statt – am besten beiläufig während der gesamten Erziehung. Es geht ja nicht nur um das klassische Aufklärungsgespräch, wie denn die Kinder entstehen. Es wird eine Grundhaltung vermittelt: Alles dreht sich um Gefühle, um das Körperbild, das langsam entsteht.

derStandard.at: Also nicht zuwarten, bis das Kind von selbst mit Fragen auftaucht?

Von der Gathen: Das sind sicher günstige Augenblicke, in denen die Kinder offen für diese Thematik sind. Aber es ist sehr wichtig, dass wir als Erwachsene auch versuchen, den Kindern viel aus dem Leben zu erzählen – über das, was uns bewegt, unsere Gefühle. Oft handelt es sich um Gespräche, die sich zufällig im Alltag ergeben. Das sind meist auch die viel entspannteren Situationen.

derStandard.at: Gibt es auch Fragen, die Sie erschrecken?

Von der Gathen: Nein. Das meiste kann aus Kinderperspektive eingeordnet werden. Aber eine Frage hätte ich am liebsten gleich wieder weggesteckt: Was ist, wenn man schwanger ist und gar kein Kind haben will? Hier kinderadäquat zu antworten ist eine Herausforderung. Hier öffnet sich ja eine ungeheure Bandbreite an Problemstellungen, die besprochen werden müssen.

derStandard.at: Das beschäftigt Achtjährige?

Von der Gathen: Auch. Aber ich glaube nicht, dass sie dabei die Thematik "Abtreibung" im Kopf haben. Es ist schlicht Neugierde, unbefangen, da ist kein Hintergedanke. Nur neigen Erwachsene immer dazu, etwas hineinzuinterpretieren.

derStandard.at: Früher wurde ein mehr oder weniger medizinisch-technisches Buch durchgekaut, dann folgte ein Vortrag der Mutter, fertig! Die Aufklärung war somit abgeschlossen.

Von der Gathen: Das ist oft so gewesen. Ich würde es aber auf keinen Fall so machen. Inzwischen gibt es auch andere, kindgerechte Bücher. Ein guter Tipp ist, solche Bücher einfach in den Bücherschrank zu den anderen Kinderbüchern zu stellen. Die Kinder können das Thema dann selbst für sich entdecken. Kinder wissen meist mehr über Sexualität, als wir ihnen als Erwachsene zutrauen. Sie gehen ja mit offenen Augen und Ohren durch die Welt. An jeder Bushaltestelle gibt es Unterwäschewerbung oder eine Aids-Präventionskampagne. Viele haben außerdem ungeschützten Zugang zum Internet.

derStandard.at: Das Internet ist wohl auch der große Unterschied zu früheren Zeiten.

Von der Gathen: Sexualität ist generell viel zugänglicher. Nach wie vor holen sich Kinder sehr viel Information im Verborgenen. Sie spüren nämlich ganz deutlich, dass das ein Tabubereich ist, über den Erwachsene nur ungern reden.

derStandard.at: Weil Eltern das Thema peinlich ist?

Von der Gathen: Ja, viele Eltern fühlen sich in diesem Bereich unsicher. Welche Wörter kann ich benutzen, wann ist der richtige Zeitpunkt? Soll ich einfach losreden?

derStandard.at: In Ihrem Buch geht es recht deutlich zur Sache.

Von der Gathen: Ich versuche immer, die Worte der Kinder zu verwenden. Natürlich ist es einfacher, medizinische Begriffe einzusetzen, aber das genügt nicht. Für Kinder ist es teilweise abstrus, was sie punkto Erwachsenensexualität sehen und hören. Das soll für Erwachsene schön sein? Die erste Reaktion ist fast immer: pfui! Was Erwachsene hier tun, ist erst mal ekelig.

derStandard.at: In Eltern-Kind-Gesprächen wird meist nur über die Entstehung eines Menschen, nicht aber über die Sexualität, die Lust gesprochen.

Von der Gathen: Daran halten sich Eltern gerne fest. Es wird technisch bis ins Kleinste der Vorgang der Zeugung beschrieben, aber die Gefühle, die dazugehören, werden völlig ausgespart.

derStandard.at: Die Elterngeneration hat es ja auch oft nur so gehört.

Von der Gathen: Wie man selbst Aufklärung erfahren hat und wie man mit seinem Partner oder seiner Partnerin über Sexualität redet, spiegelt sich da wider. Eine wichtige Botschaft ist deshalb: Wenn es dir als Erwachsenem peinlich ist, dann lach darüber, thematisiere die Peinlichkeit. Kinder verstehen das, es schafft Nähe.

derStandard.at: Verdrängen Eltern das Thema, und dann trifft es sie unvorbereitet?

Von der Gathen: Viele meiden es oder lavieren herum. Andere hoffen, dass die Schule diesen Job übernimmt. Es gehört ihnen stärker vermittelt, dass solche Gespräche Nähe schaffen.

derStandard.at: Sollen die Geschlechtsteile so benannt werden, wie man normal redet?

Von der Gathen: Wenn Kinder Koseworte benutzen, ist das völlig okay. Sie drücken eine gute Beziehung zum eigenen Körper aus. Man kann Begriffe nebeneinander stehen lassen. Ab einem gewissen Alter ist es aber wichtig, dass sie jene Worte wissen, mit denen sie auch öffentlich hantieren können. Beim Arzt sagt man Scheide und nicht Luluspatzi.

derStandard.at: Wann soll ein Kind alles wissen? Mit zehn Jahren?

Von der Gathen: Auch Erwachsene wissen nicht alles. Es muss entwicklungsadäquat sein. Ich schütte in meinem Buch ja auch nicht die gesamte Bandbreite an Antworten auf Fragen aus. Was ist für das Kind, das gefragt hat, wichtig? Und was möchte ich vermitteln?

derStandard.at: Gab es schon einmal Probleme mit Eltern, die Ihren Unterricht nicht wollten?

Von der Gathen: Das gibt es immer wieder. Manche Eltern haben Sorge, was ich mit ihren Kindern mache. Aber ich kann das gut erklären, ich zeige auch die Materialien, die ich verwende. Bisher hat sich noch nie jemand geweigert.

derStandard.at: Jugendliche scheinen sehr viel über Sex zu wissen, nur ihren Körper kennen sie eigentlich nicht. Täuscht der Eindruck?

Von der Gathen: Das Empfinden habe ich auch. Ich arbeite ja auch mit 15-, 16-jährigen Jugendlichen in Schulen. Da könnte man schon denken: Die wissen alles über ihren Körper. Die Mädchen haben ihre Menstruation. Da bin ich schon manchmal erstaunt, wie wenig über die Funktion des eigenen Körpers da ist. Da liegt einiges brach.

derStandard.at: Ist dies das Resultat von Aufklärung per Porno?

Von der Gathen: So drastisch möchte ich das nicht formulieren. Es ist wie bei unserer Generation auch: Sie erhalten Informationen durch Gespräche mit ihren Freunden und Freundinnen. Sie haben natürlich viel mehr Möglichkeiten über das Internet, sich mehr Informationen zu holen. Letztendlich sind es aber doch immer dieselben Fragen, die beschäftigen: Wie finde ich den richtigen Partner? Wie ist mein Sex möglichst schön? Porno ist zwar zugänglicher, aber letztendlich geht es doch um Fragen der persönlichen Sexualität.

derStandard.at: Zum Schluss: Haben Sie jetzt die größte Aufklärungs-Karteikartensammlung?

Von der Gathen: Ganz so schlimm ist es nicht. Aber ich habe sehr viele. Die Kinder werden natürlich auch durch die bereits vorhandenen Karten mit Fragen inspiriert. Zum Beispiel bei der Frage, wie Tiere Sex haben. Da werden alle Tierarten durchgegangen – vom Seestern bis zum Dinosaurier. Und da muss ich dann recherchieren. (Peter Mayr, DER STANDARD, 27.9.2014)