Was die Burschen und Mädels von Brooklyn Grange im elften Stock ernten, wird an Restaurants in New York geliefert - oder in Gemüsekisteln in der Nachbarschaft vercheckt.

Foto: Alexandra Palla
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Das Taxi spuckt dich an einem Punkt aus, wo man eigentlich sagen möchte, Moment, nein, so war das nicht gemeint, bitte retour. Denn im Film, der grad durch den Kopf geht und sich aus Bildern von "CSI New York" oder "Cold Case" zusammensetzt, kommen doch jetzt die quietschenden Reifen, die Knarren, dann hoffentlich die Cops, und irgendein Showdown. Gut gegen Böse.

Lass Gut gewinnen, steig aus und such den riesigen Stahlbetonbau Nummer 3 nach dem Eingang ab, wo dich ein scheppernder Lastenaufzug in den elften Stock fährt. Schwierig genug, denn das ehemalige Lager der US Navy in Brooklyn hat viele Zugänge, wenige Rampen. Ist man dann endlich im obersten Stock der richtigen Stiege, geht es noch eine Eisentreppe hinauf; eine schwere Türe aufgestoßen, und ja, es ist noch viel besser als erwartet: Hinter einem grün wuchernden Infinity-Acker erhebt sich wie aus dem Nichts die Skyline von Manhattan.

Weltgrößtes Urban-Farm-Projekt auf einem Dach

Brooklyn Grange ist seit 2010 das weltgrößte Urban-Farm-Projekt auf einem Dach. Der auf das Begrünen städtischer Flächen spezialisierte Landschaftsplaner Ben Flanner verbrachte zuerst ein Jahr mit der Entwicklung und Vorbereitung. Es sollte schließlich genau dieses Dach der ehemaligen Brooklyn Navy Yard werden. Und es war von Beginn an als wirtschaftliches Unternehmen angelegt. "Lage und Umgebung sind einzigartig, wir wussten gleich, dass wir da qualitativ hochwertige Lebensmittel wachsen lassen können", sagt Flenner.

Urbaner Gemüseanbau ist in den hochentwickelten Küstenregionen der Vereinigten Staaten längst eine Zukunftsbranche, in die echtes Geld investiert wird. Schließlich wird an Orten wie diesen das Bedürfnis des umweltbewussten und bewusstseinshedonistisch veranlagten Großstadtmenschen befriedigt, über die Entstehung seiner Lebensmittel Bescheid zu wissen und sich an gemeinsamem Arbeiten ebenso zu erfreuen wie am Genuss der frisch aus der Erde gezogenen Produkte.

Auf mehr als 6000 Quadratmetern, fast so groß wie ein Fußballfeld, wird biologisch angebaut, dass es von unten betrachtet aufwändiger nicht geht: Zuerst wurde das Dach des monumentalen Industriebaus mit speziellen Folien abgedichtet, dann Erde - eigentlich ein spezielles Substrat - mittels überlanger Schläuche auf das Dach gepumpt. Bis auf 30 Zentimeter Feldhöhe, mehr braucht es nicht. Bewässert wird über ein Schlauchsystem, der Wasserverbrauch ist angeblich nicht höher als jener einer durchschnittlichen amerikanischen Familie pro Jahr. Das Dachfarmbüro, ein weißer Container, wurde mit dem Kran oben draufgesetzt.

Minzwasser

Zur Begrüßung gibt es eiskaltes Wasser mit Minze frisch vom Feld, gereicht von einem sehr tätowierten Arm. Er gehört einem der 30 Saisonmitarbeiter, vorwiegend Praktikanten und Freiwillige. Brooklyn Grange unterstützt in Kooperation mit dem Refugee and Immigrant Fund (RIF) auch Flüchtlinge und Einwanderer. Sie durchlaufen ein Traineeprogramm, bringen ihr kulturelles und landwirtschaftliches Wissen in die Community ein.

Die Feldbegehung legen wir im Uhrzeigersinn, also dem Gang der Sonne nach, an. Der Salat wird geerntet und das Feld feinsäuberlich von Ernteresten und Unkraut befreit. Andächtig wird es per Scheibtruhe zum eigenen Komposthaufen gefahren. Auf dem Dach gibt es keinen Abfall, alles wird wiederverwendet, der Kreislauf der Natur funktioniert auch da oben.

Im Sommer erlebt man die Dachfarm naturgemäß in ihrer schönsten Pracht, mannshohe Sonnenblumen, Staudenreihen voll Paradeiser, Zucchini, Gurken, Melanzani, das neue "Superfood" Grünkohl, aber auch Kornblumen, Mangold, Karotten, dazwischen immer wieder blühender Klee - "das neutralisiert die Erde", sagt Flenner. Im Hühnerstall, ganz im Schatten eines Lüftungsschachtes, scharren Hühner und beglücken die Dachbauern täglich mit frischen Eiern.

Natürlich gibt es hier auch Bienenstöcke, ein Muss für jede Dachfarm. Im eigenen Gewächshaus werden Jungpflanzen gezogen, die Saat aus ausgewachsenen Pflanzen gewonnen. "New York City ist plötzlich eine Art Farming Town geworden", jubelt die "New York Times" über den neuen Trend und erkennt auch Vorteile für die Stadtverwaltung, an die man zuerst kaum denken würde: "Dachfarmen wie diese saugen bei Unwettern zigtausende Gallonen an Regenwasser auf, das sonst die Abwasserkanäle überfluten würde."

Workshops & Open-Air-Kino

Ist die Feldarbeit einmal verrichtet, wird das Dach für Veranstaltungen, Open-Air-Kino und Urban-Farmer-Workshops genutzt. Zusätzliches Geld kommt durch Vermietung für Feste, Führungen, private Dinnerabende, Yoga- und Pilates-Kurse rein. "Es gibt nichts Schöneres, als am Ende eines arbeitsreichen Tages in die untergehende Sonne zu sehen und dazu frischgepflücktes Gemüse mit dem Team zu essen", sagt Anastasia Cole, Flenners Kopräsidentin und Gründungspartnerin von Brooklyn Grange. "Jedes Jahr besuchen uns 7.000 Kinder, wir zeigen ihnen, wie Gemüse wächst, wie die Sorten heißen und: wie Gemüse schmeckt".

Mittwoch ist Abholtag für rund 30 Abonnenten, die sich ihr Frischgemüse direkt vom Dach für ein paar Dollar abholen. Was übrig bleibt, wird an Lokale in der Umgebung und auf Bauernmärkten in der Stadt angeboten. Diese Woche werden es frisch aus der Erde gezogene Karotten, Salat, eine spezielle Kohlart und Eier jener Hühner sein, die ihre Körndln mit Aussicht picken.

Im Hintergrund brummt Manhattan. Die Kulisse von Downtown samt Wall Street bildet den spektakulären Kontrast zum Feld auf dem Dach mit vieler Freiwilliger Hände Arbeit - als verbinde der soziale Kitt des Urban Farming all die Gegensätze: Arm und Reich, die Stadt und das Land, Himmel und Erde. (Alexandra Palla, Rondo, DER STANDARD, 19.9.2014)