Die Zahl der kurdischen Flüchtlinge an der türkisch-syrischen Grenze ist nicht gesichert - manche Beobachter halten die gemeldeten 130.000 für stark übertrieben -, und es handelt sich nicht um ein unzugängliches Berggebiet in winterlichen Verhältnissen: Und dennoch denkt man angesichts der vor dem "Islamischen Staat" (IS) fliehenden syrischen Kurden an die Szenen im April 1991, als die irakischen Kurden zu Hunderttausenden vor Saddam Husseins Offensive, die den kurdischen Aufstand nach dem Golfkrieg beenden sollte, flohen und an der türkischen Grenze festsaßen.
Die Bilder vom Leid der Flüchtlinge, aber auch die Sorge um die Stabilität der türkischen Regierung veranlassten die USA und ihre Alliierten damals, im Norden des Irak eine Flugverbotszone und einen "safe haven" einzurichten. Aus ihm wurde das kurdische Autonomiegebiet, das sich nun Richtung Unabhängigkeit bewegt.
Auch diesmal könnte das kurdische Flüchtlingsdrama zum Auslöser für eine neue Intervention werden: Die diversen Ideen von Puffer- und Flugverbotszonen - wobei Letztere für die Bekämpfung des "Islamischen Staats" keine Rolle spielen - werden wieder ausgegraben und in New York, am Rande der Uno-Vollversammung diskutiert. Und in den USA scheint sich die Ansicht durchzusetzen, dass die IS nicht nur im Irak, sondern auch in Syrien geschlagen werden muss - und dass das allein mit Luftschlägen nicht zu bewerkstelligen ist. Zwar wurde der Vormarsch der IS im Irak erst einmal gestoppt, aber die amorphe Masse setzt sich eben woanders in Bewegung. Die Angst besteht, dass sie sich noch in andere Richtungen bewegt und dort Unterstützung auf dem Boden mobilisieren kann, etwa in Jordanien.
Kurden bei der IS
Dutzende kurdische Dörfer wurden in den vergangenen Tagen erobert, andere vor dem Ansturm geräumt, und wie immer, wenn die IS kommt, fliehen die Menschen in Panik. Laut einem Bericht von Rudaw online hat die IS mindestens vierzig Kurden in den eigenen Reihen liquidiert, weil sie sich dem Krieg gegen Rojava (der kurdische Name von Westkurdistan) verweigerten - was so nebenbei die Information enthält, dass auch Kurden in der IS kämpfen.
Die Betroffenheit über das Schicksal der syrischen Kurden ist groß - aber nicht bei allen wird deren Führung in die Empathie mit einbezogen. Die PYD (Partei der Demokratischen Union) hatte die kurdische Verwaltung in drei (nicht territorial geschlossenen) Gebieten, in die nun teilweise die IS einrückt, erst im November 2013 errichtet. Auch bei den syrischen Kurden war, wie im Irak 1991, ein Krieg der Katalysator: der Bürgerkrieg in Syrien. Anders als im Nordirak war das Projekt aber sogar unter Kurden umstritten: Der irakisch-kurdische Präsident Massud Barzani, der zuvor unter den verschiedenen Fraktionen zu vermitteln versucht hatte, kritisierte die PYD-Entität scharf.
PYD-Chef Salih Muslim bestreitet zwar jede operative Zusammenarbeit mit der PKK, aber die PYD steht der türkischen Kurdischen Arbeiterpartei zumindest ideologisch nahe. Der konservative Barzani, der nicht nur mit den USA, sondern auch mit der Regierung in Ankara gut kann, und seine KDP (Kurdische Demokratische Partei) sind am anderen Ende des politischen Spektrums angesiedelt (und der alte "rote" Ansprechpartner, Jalal Talabani, von der Patriotischen Union Kurdistans, PUK, fällt aus). Die kurdisch-irakischen Peschmerga können laut eigener Aussage deshalb auch gar nicht so einfach ihren Brüdern in Syrien ohne offizielle Aufforderung der PYD zu Hilfe eilen.
Der PYD wurde auch vorgeworfen, dass sie sich mit dem Assad-Regime in Damaskus zumindest arrangiert hätte, dem es zupasskam, dass sich die Milizen der PYD, die YPG (Volksschutzeinheiten) mit den anderen Rebellengruppen herumschlugen. Für die einen wird demnach mit der PYD-Verwaltung der Beginn einer Kurdenautonomie in Syrien zerschlagen, für die anderen nur ein verdächtiges Konstrukt.
Ankara unter Verdacht
Dass Ankara die PYD-Zone ein Dorn im Auge war, liegt auf der Hand. Das Zusammentreffen ihres Falls mit dem Freikommen der von der IS festgehaltenen türkischen Geiseln hat die Gerüchte befeuert, dass Ankara eine Art Deal mit der IS hat (die Version, die die türkische Regierung bietet, wird von vielen bezweifelt). Das neue Flüchtlingsproblem, mit dem die Türken nun fertig werden müssen - mit Flüchtlingen, die aus ihrer Sicht quasi PKK-Verwandte sind - spricht aber eigentlich dagegen. (Gudrun Harrer, DER STANDARD, 23.9.2014)