Illustration: Dennis Eriksson

Erst wenn die Siegel geöffnet, die Posaunen geblasen und die Schalen mit Gottes Zorn ausgegossen - dann tritt es ein, das Zeitalter der Giganten. Und es scheint schon gekommen. Nicht der warme Frühling in diesem Winter oder gar der Sommer im Frühling zeichnen für den diesjährigen pflanzlichen Riesenwuchs verantwortlich, sondern es steht in der nie veröffentlichten "Offenbarung für Gartler": Das Zeitalter der Giganten begann zeitig mit einer Fliederblüte, die ihresgleichen nicht mehr finden wird. Fortgesetzt wurde es von den Sonnenblumen, deren Streben nach neuen Höhen Wissenschafter aus aller Welt beratend zusammenkommen hat lassen.

Vollendet wurde das Zeitalter der Giganten heuer von den Paradeisern des Gartlers. Drei bemitleidenswerte mickrige Jungpflanzen wuchsen sich zu wahren Monstern aus. Der Gartler weiß sich auch keinen Rat mehr, gibt es doch im Fachhandel keine längeren Stützstäbe als jene von drei Metern Länge zu kaufen. Auch der an die Wand montierte Rosenspalier ist mit seiner Bauhöhe von vier Metern den Paradeisern als Stütze zu niedrig. Doch wie kam es, einmal abgesehen vom beginnenden Zeitalter der Giganten, dazu?

Dreimal nichts tun

Nun, der Gartler gehört zum mystischen Geheimbund der "Drei N": Nicht gießen, nicht düngen, nicht ausbrechen. Und jede der drei Paradeiserpflanzen hat - wegen lehrreicher Fehler im letzten Jahr - heuer einen Quadratmeter Platz für sich zugedacht bekommen - erneut zu wenig. Binnen weniger Wochen schossen die Triebe in die Höhe, wurden von Stäben gestützt, von Fäden gehalten und von Spalieren die Mauer hinaufgeleitet. Doch wer Triebe nicht ausbricht, hat es bald mit ganz vielen davon zu tun, und dementsprechend mit viel Laub und folgerichtig auch mit vielen Früchten.

Wer seinen Pflanzen das Laub nimmt, nimmt ihnen auch die Möglichkeit, Licht in Kohlenhydrate, wie zum Beispiel Zucker, zu verwandeln. Und wer nur wenige Triebe stehen lässt, akzeptiert auch wenige Blüten und damit wenige Früchte. Selbst für die wenigen Früchte ist dann zu wenig Zucker durch zu geringe Blattfläche vorhanden. Das Tomatl schmeckt dann fade.

Tür und Tor offen

Darüber hinaus eröffnet das Ausbrechen Infektionen Tür und Tor, steht die Pflanze doch an der Bruchstelle offen. Steckt die Pflanze im Boden und nicht in einem Topf, so braucht man sie nicht zu gießen. Auch das Düngen kann man sich sparen. Solanum lycopersicum braucht das nicht.

Das, was der ordinäre Paradeiserstrauch wirklich braucht, ist Platz - nächstes Jahr zwei Quadratmeter pro Pflanze einplanen! - und einen starken, hohen Stützapparat, damit er, wenn voll mit Früchten behangen, nicht zu Boden geht. Und hier ist des Gartlers Fantasie kommendes Jahr gefordert, ganz besonders im Zeitalter der Giganten. (Gregor Fauma, Rondo, DER STANDARD, 26.9.2014)