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Louis van Gaal weiß mehr als jeder andere, was er kann.

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Seit wenigen Monaten hat Manchester United einen neuen Trainer. Die Verantwortlichen werden nie erzählen können, sie hätten nicht vorher gewusst, dass Aloysius Paulus Maria van Gaal, genannt Louis, ein komplizierter Mann ist. Der neue Trainer des englischen Rekordmeisters hat diesen Ruf nämlich schon länger. Gleichzeitig weiß man bei den Red Devils aber auch, dass Van Gaal beinahe überall, wo er als Trainer werkte, entweder selbst erfolgreich war oder großen Erfolgen den Weg bereitete.

Ein erstaunlicher Exploit gelang schon früh in seiner Karriere. Nach Jahren als durchschnittlicher Spieler und Assistenztrainer übernahm Van Gaal mit 40 den Traditionsklub Ajax Amsterdam und führte ihn zum möglicherweise letzten ganz großen Höhepunkt der Vereinsgeschichte: Dem Triumph im Champions League-Finale 1995 in Wien gegen den AC Milan.

Den Titel holte ein Team von spottbilligen Van-Gaal-Jüngern ebenso ungeschlagen wie die niederländische Meisterschaft. Nie davor oder danach hat ein jüngeres Team die Champions League gewonnen, als jenes rund um Frank Rijkaard und Jari Litmanen. Nur Rijkaard und Danny Blind waren von den Startspielern des Finales über 25, Patrick Kluivert und Clarence Seedorf hingegen erst 18 - sie sollen regulär damals 600 Pfund pro Woche verdient haben. Es war ein Team, das niemand je vergessen wird, der es gesehen hat. Voller Energie, Schönheit und Talent.

Schicksalsschläge

Das Leben war zu Van Gaal in der Zeit davor unbarmherzig. 1994 verlor er seine Frau und Jugendliebe nach 21 Jahren Ehe an den Krebs. Das kostete ihn seinen Glauben an Gott. Und es soll ihn nicht zuletzt wegen grausamer Gesänge gegnerischer Fans fast zum Rückzug aus dem Fußball bewegt haben. Seine Töchter stimmten ihn um.

Der Tod seiner Frau war nicht der erste schwere Schlag. Van Gaals Vater starb nach langer Krankheit als Louis, das jüngste von neun Geschwistern, erst elf Jahre alt war. Die Erziehungsmethoden des Patriarchen waren strikt, die Familie streng katholisch, Disziplin und Respekt galten als hohe Werte. Davon hat Van Gaal viel mitgenommen. Er wird oft als autoritär beschrieben. Alle sollen nach seiner Pfeife tanzen, seine Vorstellungen umsetzen.

Dann wurde es kompliziert

Nach seinem Abgang bei Ajax 1997 folgten erfolgreiche Jahre bei Barcelona (1997-2000). Er holte unter anderem zwei Meisterschaften. Als er die dritte knapp verpasste, wurde er entlassen. Als Bondscoach verpasste er mit den Niederlanden die WM 2002, was er dem Volk in einer 60-minütigen Rede im TV zu erklären versuchte. Er wurde entlassen - nicht ohne einen Masterplan für den Nachwuchs zu implementieren.

Bei seinem folgenden zweiten Engagement in Barcelona träumte er von einer mit Spielern aus der Jugendakademie gespickten Barça-Elf. Er begann mehr Jugendspieler einzubinden und wurde nach einem halben Jahr entlassen. Fast ein Jahrzehnt später ist seine Strategie selbstverständlich. Der Traum einer kompletten La-Masia-Elf wurde 2012 in seiner Abwesenheit unter dem mittlerweile verstorbenen Tito Vilanova wahr. Mehrere Spieler, die er damals in die Mannschaft geholt hatte, waren noch dabei.

Cruyff ist auch kein einfacher Mann

Dann scheiterte er als Sportdirektor bei Ajax an seiner Kontrollsucht, verkaufte aber vorher den seiner Meinung nach defensiv zu wenig arbeitenden Zlatan Ibrahimovic gegen den Wunsch des Trainers.

Bei vielen dieser Stationen begleitete ihn auf gewisse Weise sein Lieblingsfeind Johann Cruyff. Schon als Spieler bei Ajax wurde ihm der vier Jahre ältere, niederländische und katalanische Nationalheld vorgezogen. Als Van Gaal Trainer bei Barcelona war, mobbte Cruyff ihn in befreundeten Medien bei der ersten Gelegenheit. Gegen eine erneute Anstellung bei Ajax zog das Aufsichtsratmitglied Cruyff 2011 sogar vor Gericht und verhinderte sie damit. Ihre Beziehung ist sozusagen kompliziert.

Rundum-Erneuerer mit Konzept

Böses Blut hinterlässt Van Gaal aber oft allein schon durch seine Bedingungslosigkeit. Kommt er zu einem Klub, lüftet er zuallererst seinen Kader. Wer in sein System nicht passt, wird gegangen. Auch bei Manchester United wirbelte er schon kräftig. Diesen Sommer ließ er Spieler wie Danny Welbeck, Shinji Kagawa, Chicharito, Patrice Evra und Tom Cleverly gehen, ManUnited kaufte dafür um 190 Millionen Euro ein - und Radamel Falcao ist dabei erstmal nur geliehen.

Die Liste der Ausgemusterten aus früheren Zeiten beinhaltet den damaligen FIFA-Weltfußballer Rivaldo (der befolgte bei Barcelona die taktischen Anweisungen nicht), Vize-Weltmeister Giovanni (der seinen Barça-Trainer in einem Anfall besonderer geistiger Umnachtung später als "Hitler für Brasilianer" bezeichnete), Weltmeister Luca Toni (der als Bayer von Van Gaal wegen seiner Tischmanieren an den Ohren gezogen wurde), und Weltmeister Lucio (der Ex-Bayer meint über den Vorgang: "Er verletzte mich damit mehr als jeder andere im Fußball").

Persönlichkeit

Wer sich einfügen will und kann, wird dafür intensiv als "ganzheitliche Person" betreut. "LvG" will ein persönliches, harmonisches Umfeld schaffen, kennt für diese Zwecke angeblich auch die Geburtstage aller Spielerfrauen.

Nicht selten werden Schützlinge zu gläubigen Gaalisten. Nach dem bitteren Jahren anfang der 2000er-Jahre, fand er seine Rettung in einer Kleinstadt namens Alkmaar (2005-2009). Als er nach zwei guten und einer misslungenen Saison zurücktreten wollte, stimmte ihn ein Protest der Spieler um. Im nächsten Jahr durchbrach Alkmaar Jahrzehnte der Dominanz der "Großen Drei" im niederländischen Fußball (PSV, Ajax, Feyenoord) und wurde Meister. Als "modernisierten Totalen Fußball 2.0" bejubelte die englische Tageszeitung Guardian den Stil.

Ein Mann für die Jugend

Van Gaal arbeitet dabei schon immer gerne mit formbaren jungen Spielern, nicht nur bei Ajax. Nachhaltigkeit steht dabei über dem schnellen Erfolg. "Manchmal wäre es besser mit anderen Spieler zu spielen. Aber wenn du ein Team entwickeln willst, brauchst du langfristige Entscheidungen", sagt er. Oder auch: "Ich bin nicht für mich hier, sondern für den Klub".

Er verhalf mit seiner Politik Spielern wie Xavi, Andres Iniesta, Carles Puyol, Thomas Müller, Holger Badstuber, Toni Kroos und David Alaba zum Sprung in die Stammformation. Spieler die über Jahre den Weltfußball geprägt haben. Bei Manchester United scheint der 20-jährige Verteidiger Tyler Blackett seine Gunst gewonnen zu haben, der bisher in allen Ligaspielen auflief.

Theorie und System

Van Gaal ist ein Tüftler und Denker, der sein Notizbuch immer dabei hat und sein System ständig anpasst. Er verschlüsselt das Spielfeld in 18 Rechtecke innerhalb derer sich die Aufgaben von Spielern unterscheiden, lässt Spiele und Trainings mithilfe modernster Technologien und eigenem Personal aufarbeiten. Bei Alkmaar erhielt jeder Spieler nach einem Match eine E-Mail mit den Dingen, die er gut gemacht hatte oder verbessern musste. Cruyff nennt das eine "militaristische Arbeitsweise", für Van Gaal ist es der Prozess der zum Erfolg führt.

Auch wenn er sich moderner Technologien bedient, ist er in anderer Hinsicht altmodisch. In einem bemerkenswerten Satz einer SZ-Reportage im Jahr 2010 heißt es gleichzeitig, er pflege "zu Computern ein ähnlich distanziertes Verhältnis wie der Vereinspräsident Uli Hoeneß, der erst nach ewigen Debatten bereit war, sich von seiner Frau wenigstens erklären zu lassen, wie Online-Banking funktioniert". Van Gaal meint, dass Computer keine vollwertige Kommunikation ermöglichen und schätzt ihren Alltagseinsatz wenig.

Kommunikation und Kontrolle

Kommunikation ist neben Kontrolle ein weiteres Schlüsselwort seiner Philosophie - am Feld und abseits. Er bestimmt schonmal die Sitzordnung beim Mannschaftsessen, um die Leute zum Reden zu bringen. Ähnliches praktiziert übrigens Konkurrent José Mourinho, der vielleicht einzige noch polarisierendere Spitzentrainer, um das Mannschaftsklima zu verbessern.

Der 63-jährige Niederländer beharrt bei aller Philosophie nicht auf Formationen. Ein 3-4-3 führte bei Ajax zum Ziel, ein 4-3-3 bei Barcelona, ein 4-4-2 bei Alkmaar. Hollands WM wurde im 3-4-1-2 bestritten und Manchester United nach seiner Ankunft sofort auf ein 3-5-2 umgekrempelt. Damit glänzten die Red Devils in allen Testspielen der Saisonvorbereitung, deren US-Tour dem Trainer immer ein Dorn im Auge war. Seitdem der Ernst der Saison begonnen hat, stottert der Motor aber. Gleich im ersten Spiel gegen Swansea gab es eine überraschende Niederlage, zur Pause packte er sein System dabei vorerst wieder ein.

Philosophie und Prozess

Auch dieser Pragmatismus verhinderte nicht den schlechten Start. Nur fünf Punkte aus fünf Ligaspielen, der zwölfte Platz und ein peinliches Aus im Ligapokal gegen die Drittligisten von Milton Keynes Dons (die kennt man von hier) sprechen für sich. Nach einer überzeugenden 3:1-Führung gegen Aufsteiger Leicester zerfiel seine Mannschaft kürzlich geradezu und ging mit 3:5 unter. TV-Experte und Ex-ManUnited-Spieler Gary Neville ließ dann damit aufhorchen, dass Van Gaal weitere 130 Millionen Euro brauchen werde, um eine Meistermannschaft zu formen.

Doch der Stolperstart ist nicht ganz ungewöhnlich für den selbsternannten "Prozesstrainer": "Alle meine Teams waren am Anfang nicht gut. Sie müssen vom Instinkt auf Denken umschalten". Seine Philosophie ist ungewöhnlich. Er will seine Mannschaft dazu bringen, weniger zu laufen. All das brauche Zeit - über einen "dreimonatigen Crashkurs" hinaus.

Dreijahresplan

"Es hängt alles von der Qualität der Spieler ab, ich bin kein Magier", sagt Van Gaal. Ob durch Zukauf oder das Formen vorhandenen Personals, "nach drei Jahren werden wir die richtige Art von Spielern haben". Und "eine gute Basis".

So lange hat heutzutage im Fußball keiner Zeit - auch nicht das erfolgsverwöhnte ManUnited in einer Umbruchphase. Schon im Verlauf der Saison wird sich die Leistung bessern, verspricht der Trainer also. Der Meistertitel soll in den kommenden drei Jahren folgen: "Natürlich."

Saat und Ernte

Bei den Bayern lief es so. Im ersten Herbst stand er kurz vor dem frühen Rauswurf, bevor das System griff und die Münchner erst im CL-Finale das historische Treble verpassten. Im Jahr darauf hatte das nunmehrige "Feierbiest" sich wieder einmal mit zu vielen Vorgesetzten und Medien angelegt, um die schlechter werdenden Ergebnisse im Amt zu überstehen. Jupp Heynckes folgte ihm nach und schaffte das große Titel-Trio. Van Gaal betrachtet das als Folge seiner Arbeit. Das System wurde jedenfalls nicht gravierend verändert.

Bei Manchester United hat Van Gaal einen Dreijahresvertrag. Bleibt abzuwarten, ob das genügt, um auch selbst die Früchte seiner Arbeit zu ernten. Oder ob es Manchester United zu kompliziert wird. (Tom Schaffer, derStandard.at, 25.9.2014)