Es klingt paradox, doch für die Masse der unselbstständig Beschäftigten bringt eine Lohnsteuersenkung per se keinen Vorteil. Je nach Ausgestaltung der Gegenfinanzierung kann eine Lohnsteuersenkung für mehr, aber auch für weniger Verteilungsgerechtigkeit sorgen.

Seit Jahrzehenten nimmt der Anteil der Kapitaleinkommen am BIP zu, während der Lohnanteil sinkt. Gleichzeitig tragen Arbeitseinkommen einen immer höheren Teil der Staatseinnahmen. Da erscheint es nur gerecht, wenn den "ArbeitnehmerInnen endlich mehr Netto vom Brutto im Börsel bleiben" (Erich Foglar). Letzte Woche haben AK und ÖGB ein Modell zur Lohnsteuersenkung vorgelegt, das Werner Faymann offiziell als Position der SPÖ übernahm. Die konkreten Entlastungswünsche haben Modellcharakter, die Vorschläge zur Gegenfinanzierung sind unkonkrete Absichtserklärungen. Dass sich die Interessenvertretung nicht getraut hat, ins Detail zu gehen, ist unerfreulich, weil eine seriöse Diskussion umgekehrt laufen sollte: Erst muss konkret kalkuliert werden, was zu holen ist, und in einem zweiten Schritt kann man den Kuchen verteilen. Die nun gewählte Taktik geht aber auf Kosten der Seriosität. Mit den Worten von Gesundheitsministerin Sabine Oberhauser: "Wesentlich ist eine Lohnsteuersenkung", sagte die Ex- ÖGB-Vizechefin. Woher das Geld dafür komme, sei ihr "egal", auf Vermögenssteuern wollte sie sich nicht festlegen. Nun, wir glauben: Genau das Gegenteil ist richtig, weshalb unsere Botschaft lautet: Statt das Fell des Bären vor seiner Erlegung zu verteilen, sollte man zuerst den Spielraum für Entlastungen schaffen.

Anti-Robin-Hood-Politik

Das österreichische Steuer- und Abgabensystem hat kaum umverteilende Wirkung. Die progressive Wirkung der Lohn- und Einkommenssteuer wird durch regressive Elemente wie SV-Beiträge oder Konsumsteuern neutralisiert. Staatliche Umverteilung geschieht in Österreich ausschließlich über die Staatsausgaben. Einkommensschwache Haushalte profitieren aufgrund ihres geringen Einkommens überproportional von staatlichen Sachleistungen (z. B. Gratiskindergarten) und Geldleistungen (z. B. Familienbeihilfe). Werden staatliche Leistungen reduziert, trifft das Haushalte mit geringen Einkommen unverhältnismäßig stark.

Wer viel Geld hat, kann der Gemeinschaft davon viel abgeben, ohne arm zu werden. Wer wenig hat, soll von staatlichen Leistungen profitieren. Diese zwei Prinzipien begründen eine Art sozialdemokratische Hierarchie der Steuern und Transfers, der umverteilenden Wirkung, die sie ha- ben, folgend. Am besten wirken 1) Sachtransfers und 2) monetäre Transfers, gefolgt von 3) Kapitalsubstanzsteuern, 4) Kapitaleinkommenssteuern, 5) Einkommenssteuern auf Arbeit und Unternehmen. Regressiv wirken 6) Sozialversicherungsbeiträge und 7) Verbrauchssteuern - sie belasten niedrige Einkommen stärker als hohe. Gemäß dieser Hierarchie könnten monetäre Transfers durch Sachtransfers ersetzt werden, ebenso Körperschaftssteuern durch Vermögenssteuern, ohne die Verteilungswirkung des Steuersystems zu verschlechtern. Es dürften aber niemals Sachleistungen, von denen Menschen mit geringem Einkommen stark profitieren, gekürzt werden, um die progressive Einkommenssteuer zu senken.

Das wäre eine Anti-Robin-Hood-Politik: Den Armen nehmen und den Reichen geben. Eine Steuerstrukturreform kann aus sozialdemokratischer Sicht nur sinnvoll sein, wenn hierarchisch niedrigere Steuern durch hierarchisch höhere ersetzt werden. Unsere zweite Botschaft lautet daher: Eine Senkung der Einkommenssteuern lässt sich nur durch eine stärkere Besteuerung von Vermögen rechtfertigen.

Vor dem Hintergrund der schwachen wirtschaftlichen Entwicklung und den budgetären Beschränkungen ist eine übereilte Steuersenkung in der Größenordnung von sechs Milliarden Euro kaum finanzierbar. Zwei Milliarden Euro durch "Ausnahmen im Steuersystem beseitigen, Effizienzsteigerungen, Kompetenzbereinigungen, Beteiligung der Länder, Doppelförderungen vermeiden" ist - zumindest kurzfristig - ebenso unrealistisch wie "eine Milliarde Euro mit wirksamen Maßnahmen gegen Steuerbetrug".

Selbst wenn sich die ÖVP von vermögensbezogenen Steuern im Umfang von zwei Milliarden überzeugen ließe, stünde immer noch die Hälfte der Steuerreform auf wackeligen Beinen. Ohne Gegenfinanzierung wird die Lohnsteuersenkung für das Gros der ArbeitnehmerInnen jedoch zum Bumerang. Dann führen Steuersenkungen im geforderten Ausmaß direkt ins nächste Sparpaket. Und das bedeutet eben Leistungskürzungen, die gemäß der skizzierten sozialdemokratischen Hierarchie von unten nach oben umverteilen. Dementsprechend lautet Botschaft drei: Besser keine Steuerreform als eine mit Sparpaket.

Das oberste Prozent

Selbst eine halbierte Steuerreform im Umfang von drei Mrd. wird mit der ÖVP bestenfalls partiell durch vermögensbezogene Steuern (ev. Erhöhung von KESt oder Grundsteuern) gegenzufinanzieren sein. Umso wichtiger ist daher, die Entlastung sozial treffsicher zu gestalten. Hier ist das Stufensystem in der Lohnsteuer tückisch: Mit der vorgeschlagenen Senkung des Eingangssteuersatzes werden vom Arbeiter bis zum Bankdirektor alle Lohnsteuerpflichtigen für diesen Bestandteil ihres Einkommens entlastet. In Kombination mit der Erhöhung der Grenze für den Spitzensteuersatz führt das ÖGB- AK-Modell zu einem absurden Resultat: Einkommen über 7600 Euro monatlich - das Top-1-Prozent - würden in Absolutbeträgen am meisten profitieren. Seine Vertreter würden sich 3140 Euro pro Jahr sparen.

Wir hoffen, dass das nur eine taktische Konzession an die Christgewerkschaft war (die sich offenbar für das oberste Einkommensprozent zuständig fühlt). Des Weiteren hoffen wir, dass der Kanzler seinerseits nur eine taktische Konzession an ÖGB und AK gemacht hat, um die Front im Kampf für die Vermögenssteuern zu stärken. In diesem Sinne lautet die letzte Botschaft: Die Steuerreform sollte im Hinblick auf Einnahmen und Entlastung sozial gerecht sein.

Mehr Netto vom Brutto im Börsel wäre wünschenswert: Aber das österreichische Steuer- und Abgabensystem hat kaum umverteilende Wirkung. (Eva Maltschnig und Nikolaus Kowall, DER STANDARD, 27.9.2014)