Wien - An der Tür der Ärztefunkdienstzentrale in Erdberg sind Warnhinweise angebracht: Ein Patient sperrt Ärzte ein, wenn sie ihm keine starken Schmerzmittel verschreiben, ein anderer soll besser nur mit Polizeibegleitung aufgesucht werden. Von den "stadtbekannten Psychosen", wie sie intern heißen, lassen sich Prem und Lechner nicht abschrecken. Paul Prem, ärztlicher Leiter, und Günther Lechner, Sanitäter, fahren heute gemeinsam für den Ärztefunkdienst. Sie wissen: Auch zu den "Stammgästen" müssen sie fahren, selbst wenn die täglich anrufen.
Der Ärztefunkdienst fungiert als Hausarzt in der Nacht. Er wird von der Wiener Ärztekammer betrieben. Vier bis sechs Ärzte sitzen ab 19 Uhr am Telefon. Mehr oder weniger geduldig behandeln sie die Anliegen. Bei "Stammgästen" kann das schon etwas ruppiger klingen: "Wenn ich nicht panisch werde, müssen Sie es auch nicht werden", sagt die junge Ärztin als Zusatz zu ihrer Aufforderung, den Blutdruck zu messen.
Sobald die Leitungen geöffnet werden, stehen sie für mehrere Stunden nicht mehr still. Die Stimmen der betreuenden Ärzte vermischen sich, lebensbedrohliche Fälle werden sofort an die Rettung weitergeleitet. Die Herausforderung ist, zwischen Untertreibung und Übertreibung am anderen Ende der Leitung zu unterscheiden.
Für den ersten Einsatz müssen Prem und Lechner in den 20. Bezirk. Untertrieben hat dieser Patient nicht. Das Sauerstoffgerät blubbert in der Ecke, trotzdem bekommt er nur wenig Luft. Durch seine Nase führt der Beatmungsschlauch, doch beim Reden schnauft er, sodass man ihn kaum versteht. Diagnose: chronisch obstruktive Lungenerkrankung, besser bekannt als Raucherlunge. Seine Frau hat 141 gerufen, der Mann ist noch keine 60, übergewich- tig, die Atemnot macht ihm zu schaffen.
Routiniert schiebt er sein T-Shirt in die Höhe. Paul Prem holt sein Stethoskop aus dem Koffer und hört den Mann ab. Dieser lässt die Behandlung stoisch über sich ergehen. Prem gibt dem Patienten ein "Spritzerl", verschreibt "was Gutes zum Schleimlösen".
Bevor Sanitäter Lechner den Einsatzkoffer im Dienstwagen verstaut, bleibt "Zeit zum Ausschnaufen" und für eine Zigarette, dann melden sie sich bei der Zentrale.
Mit Blaulicht, ohne "Musik"
Die Anrufe werden nach drei Dringlichkeitsstufen eingeteilt. Die Ärzte beraten die Anrufer und entscheiden, ob überhaupt ein Einsatzwagen hingeschickt wird. 140.000-mal wird der Funkdienst pro Jahr angerufen, knapp 64.000 Visiten werden gemacht. Normale Einsätze sind das Hauptgeschäft, bei denen kann es dauern, die "Dringenden" werden innerhalb von zwei Stunden angefahren, die Akuten sind die "Blauen", sie werden dem nächsten Einsatzauto zugeteilt - mit Blaulicht, aber "ohne Musik", ohne Folgetonhorn.
Lechner ist der Fahrer, der Sanitäter trägt die Uniform des Samariterbundes. "Navi" braucht er keines, macht er den Job doch schon seit 25 Jahren. Er könnte auch als Taxifahrer durch die Stadt fahren, einige Kollegen haben das früher gemacht, erzählt er - "... und sich dabei einen Herzinfarkt angezüchtet", ergänzt Prem. Die beiden kennen sich lange, die gemeinsamen Einsätze sind weniger geworden.
Prem fährt meistens mit seiner Frau, einer Sanitäterin. Sie übernimmt dann auch die Dokumentation der Patienten. Deshalb ist Prem zwar begeistert vom Taschencomputer, der an ein Urzeithandy mit Kartenlesefunktion erinnert, geht aber etwas unbeholfen damit um. Meistens greift er zu seinem goldenen Kugelschreiber, um darauf herumzutippen, statt zum integrierten Stick.
Arm, einsam, alt
Das Urzeithandy klingelt, der nächste Fall. Die Anamnese wird elektronisch übermittelt, lautet: "Rückenschmerzen, operiert, hat krebskrankes Kind". Von den Wänden der kleinen Wohnung beobachten dutzende Marienbilder das Geschehen. Der Fernseher ist laut, in einem Zimmer liegen Frau und Sohn, beide an Krebs erkrankt. In der Küche macht sich der Vater für die Behandlung bereit. Er gibt Prem genaue Anweisungen, welche Spritze er wo haben will. Dass seine Rückenschmerzen nicht besser werden, sei kein Wunder. Mehrmals täglich müsse er seinen 21-jährigen Sohn heben. Zum Abschied küsst er dem Arzt die Hand.
Manche Patienten brauchen auch Ansprache, erklärt Prem. Arm, einsam und alt seien viele. Die meisten Anrufe gehen zu Weihnachten ein. Eng kann es auch werden, wenn ein wichtiges Fußballspiel zu Ende geht, da laufen die Telefone heiß. Während eines Spiels ist der Leidensdruck geringer, nach dem Abpfiff werden die Beschwerden wieder stärker.
Bereitschaftsdienst beim Ärztefunkdienst ist kein Vollzeitjob. Die meisten der 140 Ärzte sind Allgemeinmediziner mit einem Diplom in Notfallmedizin. Der Zusatzverdienst sei die falsche Motivation, sagt Prem. Etwa 38 Euro brutto bekommen sie pro Stunde, macht 460 Euro für eine Nacht. Unter diesen Bedingungen wollen nur wenige Ärzte arbeiten, dem Ärztefunkdienst fehlt es an Nachwuchs. Die Wiener Ärztekammer fordert eine Erhöhung auf 100 Euro pro Stunde, das sei vergleichbar mit dem Stundenlohn an einer Ambulanz im Allgemeinen Krankenhaus.
Die Grippe, die Lungenentzündung und der Harnwegsinfekt sind schnell abgehandelt. Diese Fälle sind Routine. Trotzdem gibt es Geschichten, die Lechner lange Zeit beschäftigen. Wie jene von dem Kind, das von einer Lifttüre eingeklemmt wurde und starb. Damals war der Sanitäter zufällig in der Nähe, die Bilder verfolgen ihn bis heute.
Die 15 Kilogramm schwere Einsatztasche wird er heute noch einige Male aus dem Kofferraum heben müssen. Sein Dienst dauert bis sieben Uhr früh. Prem wird um ein Uhr nachts nach Hause gehen, seine Ordination öffnet um sieben. (Marie-Theres Egyed, DER STANDARD, 27.9.2014)