Andrea Ristl, Autonom Talent.

Foto: HO / Matthias Silveri

Achtsamkeit - das mögen manche als eine Mode unter überarbeiteten Menschen abtun. Berater, Trainer, Therapeuten und Coaches beschäftigen sich aber zunehmend damit. Und treffen damit einen Nerv, der sich nicht selten als Sehnsucht darstellt, einfach nur einmal beachtet zu werden - mehr auf sich selbst achten zu können und mehr auf andere.

Achtsamkeit, das lässt sich nicht abtun und schon gar nicht der Wunsch danach. "Wenn die Erschöpfung da ist, sind die meisten Menschen schon so abgestumpft, dass sie es gar nicht mehr bemerken", titelte die FAZ zum Thema Burnout. Da brauche es einen Schlag von außen, den manches Mal der Körper sende.

Mehr Achtsamkeit führt zu besserer Gesundheit. Andrea Ristl, Gründerin und geschäftsführende Eigentümerin des Beratungsunternehmens Autonom Talent, begleitet Einzelpersonen, Abteilungen und ganze Organisationen, die verlernt haben, "gut auf sich zu achten" - mit körperlichen und psychischen Folgen.

Wenn Bewältigungsstrategien nicht mehr greifen

Psychische Erkrankungen kosten entwickelte Staaten bereits etwa vier Prozent des Bruttoinlandsproduktes, konnte man im letzten OECD-Bericht zum Thema lesen. Permanente Erreichbarkeit und der zunehmende Workload seien mittlerweile schon ganz alltägliche Herausforderungen, bei denen bekannte Bewältigungsstrategien vielfach nicht mehr helfen. Viele greifen dann zu Medikamenten - die Einnahme von Psychopharmaka aller Art sei eklatant gestiegen.

Ristl bietet unter anderem die "Drei-Schritt-Methode" an. Diese beginnt mit einer 24-Stunden-Messung der Herzratenvariabilität, bei der die teilnehmenden Personen einen normalen Arbeitsalltag mit einem tragbaren Elektrokardiogramm- Gerät verbringen: Rund 100.000 Herzschläge, Puls und Atemzüge werden gemessen. Parallel dazu wird Protokoll geführt - über Pausen, Fernsehen, Computerarbeit, andere Tätigkeiten oder über die Mahlzeiten, die man zu sich genommen hat. Alles auf einer Liste, die viele staunen mache, sagt Ristl, "viele erschrecken, wenn sie sehen können, womit sie ihren Tag verbringen."

Die Sucht nach einem perfekten Leben

Diese Liste gebe Auskunft über individuelle Stressoren, den Umgang damit und darüber, ob Talente nicht an anderer Stelle in der Organisation besser eingesetzt wären. Es sei ein erster Schritt für eine mögliche Veränderung, so die Beraterin. Gerade Perfektionisten und Idealisten gehören zur gefährdeten Gruppe - sie brennen für den Job, bis sie ausbrennen, im permanenten Versuch, sich selbst und der Welt "etwas zu beweisen", besser und vollkommener zu sein als andere.

Interpretiert wird das als Sucht nach einem perfekten Leben. Perfekt als Chef, die Familie als friktionsfreie Zone mit hübschem Haus und schönem Garten. Wozu schlafen, wozu erholen oder gar reflektieren? Irgendwann bleibt nur die Arbeit - und die ist in zunehmendem Maße nicht mehr bewältigbar.

Die Suche nach einer perfekten Lösung

Da braucht es etwas, das dieses Vakuum zu füllen vermag: Das Thema Achtsamkeit ist in der Arbeitswelt angekommen und wird schon längst wissenschaftlich beforscht. Welche Auswirkungen haben Achtsamkeitsübungen (Meditation) auf die Konzentration und Kreativität, auf die Gesundheit von Mitarbeitern? Welchen Einfluss hat Achtsamkeit auf die Unternehmenskultur überhaupt? - Diesen Fragen geht etwa eine Studie der Bertelsmann-Stiftung ("Die erschöpfte Arbeitswelt. Durch eine Kultur der Achtsamkeit zu mehr Energie, Kreativität, Wohlbefinden und Erfolg!") nach.

Die Studienautoren fokussieren auf gesundheits- und in der Folge mögliche innovationsfördernde Aspekte. Man schreibe für ein besseres Verständnis immaterieller Vermögenswerte von Unternehmen und zeige Möglichkeiten ihrer Messung und Mobilisierung auf, so die Autoren. Sie fordern ein neues Denken und Handeln, sie fordern einen Kulturwandel:

1. Gesundheit müsse in Unternehmen zu einem zentralen Zielwert werden. Die Alterung der Gesellschaft lasse auch keinem eine andere Wahl, heißt es da. Gesundheit sei eine elementare Voraussetzung für Lebensqualität und Leistungsfähigkeit.

Und zwar 2. nicht nur im Sinne einer guten körperlichen Verfasstheit, sondern auch im Sinne einer seelischen. Seelische Gesundheit dürfe kein Tabuthema bleiben. Anhaltende Gefühle der Wut, der Angst oder Hilflosigkeit untergraben Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft und haben negative Auswirkungen auf das jeweilige soziale Umfeld.

Erforscht sei nämlich, 3. dass anwesende Mitarbeiter zwei Drittel gesundheitsbedingter Produktivitätsverluste verursachen. Nicht jeder, der fehle, sei also krank. Und nicht jeder, der anwesend sei, sei gesund.

4. "Gesundheit", plädieren die Studienautoren, "darf nicht Privatsache bleiben." Einerseits müssen Mitarbeiter mehr Eigenverantwortung übernehmen, andererseits muss aber das Management erkennen, dass Mitarbeitergesundheit auch im ureigenen Interesse eines Unternehmens liege.

Einfach sei die Umsetzung entsprechender Maßnahmen nicht, da 5. hinzukomme, dass die fortschreitende Arbeitsteilung Kooperation erschwere, Teilegoismen und Revierdenken auf Kosten kollektiver Ziele sogar befördere. Kooperationsbarrieren zu überwinden und Vernetzung zu schaffen seien Wegbereiter für Kulturen, die die Gesundheit der Menschen in Organisationen und damit die Bereitschaft für mehr Innovation und Leistung fördern und vor allem zur Verbreitung von Freude beitragen. (Aus unserem Jahresmagazin KARRIERENSTANDARDS 2014)