Für Reisende ist das Fortkommen in Deutschland seit geraumer Zeit nicht einfach. Fünfmal haben die Lufthansa-Piloten in diesem Jahr schon gestreikt - mal ging nichts auf Kurzstrecken, mal wenig auf Langstrecken. Zurzeit fliegt der Kranich überall. Dafür werden bald die Lokomotiven in ihren Betriebsbahnhöfen bleiben.

Mit 91 Prozent sprach sich die Gewerkschaft der Lokführer am Donnerstag für weitere Streiks aus. Sie fordert von der Bahn fünf Prozent mehr Geld und Verkürzung der Wochenarbeitszeit von 39 auf 37 Stunden, die Bahn bietet zwei Prozent. "Wir werden durchstreiken bis zum Ende", droht GDL-Chef Claus Weselsky.

Diese Worte spricht ein Gewerkschaftsführer, der sich seiner Macht durchaus bewusst ist. Es gibt fünf Spartengewerkschaften in Deutschland, die immer wieder mit ihren Streiks für Aufsehen sorgen. Denn sie kämpfen nicht für die gesamte Belegschaft eines Betriebes, sondern nur für eine kleine, durchaus elitäre Berufsgruppe, das jedoch mit großer Wirkung: die Gewerkschaft der Flugsicherung (GdF) für die Fluglotsen, Ufo für die Flugbegleiter, Cockpit für die Piloten, die GDL für Lokführer und der Marburger Bund für die Klinikärzte.

Gegründet wurden diese Mini-Gewerkschaften, weil sich Ärzte, Piloten oder Lokführer von den Großgewerkschaften nicht mehr ausreichend vertreten fühlten. Die Ärzte etwa wollten ihre Interessen lieber selbst durchsetzen und nicht mehr gemeinsam mit den Krankenschwestern. Weil die Mitglieder dieser kleinen Gewerkschaften an so exponierten Stellen tätig sind, bekommt die Bevölkerung Streiks oft am eigenen Leib zu spüren.

"Die kleinen Gewerkschaften haben unverhältnismäßig große Macht, und sie üben diese auf Kosten von Dritten aus, indem sie in ihre Rechte eingreifen", sagt Hagen Lesch, Gewerkschaftsforscher am Institut der deutschen Wirtschaft Köln, zum Standard.

Er hat 134 Tarifkonflikte untersucht und festgestellt: Müssen sich Arbeitgeber mit Spartengewerkschaften auseinandersetzen, dann ist dies deutlich "konfliktintensiver". Lesch zählte dabei nicht nur die in Deutschland generell immer noch überschaubaren Streiktage, sondern analysierte den gesamten Verlauf der Konflikte. Sein Fazit: "Die Spartengewerkschaften verhandeln in der Regel länger als die Branchengewerkschaften und weisen auch eine höhere Eskalationsbereitschaft auf." Sie drohen öfter, härter und schneller.

Pluralität seit Urteil von 2010

Die Arbeitgeber wünschen sich daher jene Zustände zurück, die in Deutschland vor 2010 herrschten. Bis dahin galt das Prinzip der Tarifeinheit und der Grundsatz: "Ein Betrieb, ein Tarifvertrag." 2010 aber kippte das Bundesarbeitsgericht die Tarifeinheit und ließ Pluralität zu.

Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) tüftelt zurzeit an einem Gesetzesentwurf, der die Macht der Kleinen beschränken soll. Im Gespräch ist, dass künftig in einem Unternehmen nur noch der Tarifvertrag jener Gewerkschaft gelten soll, die in dem Unternehmen die meisten Mitglieder hat.

Doch dies ist ein heikles Unterfangen. Denn das Recht zur freien Gewerkschaftsbildung steht im deutschen Grundgesetz. Und eine Gewerkschaft, die keine Verträge verhandeln und nicht zum Streik aufrufen darf, ist zahnlos.

Der Marburger Bund hat vorsorglich Ex-Verfassungsrichter Udo Di Fabio um ein Gutachten gebeten. Dieser warnt vor dem Ausschluss einer eigenständigen Berufsgewerkschaft aus der Tarifautonomie. Da müsste die Politik schon "schwerwiegende Gründe" anführen. Streiks wie bei Bahn und Lufthansa reichten - auch wenn sie lästig seien - nicht aus.

In Deutschland ist heute Nationalfeiertag (Tag der Deutschen Einheit). An diesem verlängerten Wochenende wollen die Lokführer noch nicht streiken, aber nächste Woche könnte es so weit sein. (Birgit Baumann aus Berlin, DER STANDARD, 3.10.2014)