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Präsidentin Dilma Rousseff mit Arbeitern des Olympia-Parks in Rio de Janeiro, wo 2016 die Sommerspiele stattfinden.

Foto: AP Photo/Silvia Izquierdo

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Herausforderin Marina Silva hat auch bei den konservativen Evangelikalen viele Anhänger.

Foto: REUTERS/Paulo Whitaker

Zahlen und Umfragewerte zur Präsidentenwahl in Brasilien.

Dünn, fast zerbrechlich steht Marina Silva (56) auf einer improvisierten Bühne inmitten jubelnder Anhänger in Fortaleza. Um den Hals trägt sie eine Kette aus Kokosnussschalen, eine Hommage an ihre Heimat Amazonas. "Alles, was meine Mutter für ihre acht Kinder zum Essen hatte, waren etwas Mehl, Salz, Zwiebeln und ein Ei. Ich erinnere mich genau!", ruft sie ins Mikrofon und hebt dabei ihre Faust. "Ich weiß, was Hunger bedeutet und werde das nie vergessen. Wer wie ich durch diese Erfahrung gegangen ist, wird umso mehr das Programm Bolsa Família fortführen."

Der Wahlkampf ist schmutzig geworden. Beide Kandidatinnen werfen einander Lügen vor. Präsidentin Dilma Rousseff (66) kämpft mit aller Macht um die Wiederwahl am 5. Oktober. Ihr Hauptthema sind die vielen sozialen Errungenschaften und der Kampf gegen die Armut. Ihrer Kontrahentin wirft sie vor, das größte Sozialhilfeprogramm, Bolsa Família, kürzen zu wollen. Von den 140 Millionen Wählern profitieren immerhin rund 30 Millionen direkt oder indirekt davon.

Enge Stichwahl könnte folgen

Nach aktuellen Umfragen führt Rousseff deutlich mit etwa 40 Prozent der Stimmen. Silva kommt auf rund 27 Prozent. Vor einigen Wochen war es noch umgekehrt. Mit wortgewaltiger Unterstützung des populären Ex-Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva kam Rousseffs Kampagne in Schwung. Der konservative Kandidat Aécio Neves von der sozialdemokratischen PSDB liegt bei 20 Prozent. Damit käme es am 26. Oktober zu einer Stichwahl zwischen Rousseff und Silva, die den Umfragen zufolge die meisten Anhänger von Neves auf ihre Seite ziehen würde.

Marina Silva ging erst im August ins Rennen, nachdem der sozialistische Präsidentschaftskandidat Eduardo Campos auf Wahlkampftour bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen war. Sie war selbst rund 20 Jahre Mitglied von Rousseffs Arbeiterpartei (PT) und unter dem populären Präsidenten Lula da Silva fünf Jahre Umweltministerin, bevor sie 2008 zurücktrat. Sie warf Lula Tatenlosigkeit im Kampf gegen eine weitere Abholzung des Amazonas vor. Ihre schärfste Rivalin war die damalige Präsidialamtsministerin Rousseff. 2010 trat Marina Silva für die Grünen als Präsidentschaftskandidatin an. Mit mehr als 19 Prozent erzielte sie das beste Ergebnis einer Grünen bei Präsidentschaftswahlen.

Das Phänomen Silva ist schwer zu fassen. Sie spricht Wähler der armen Peripherie genauso an wie städtische Intellektuelle, hat viele Künstler und Umweltschützer auf ihrer Seite, ebenso wie konservative Wähler der oberen Mittelklasse. Schon früh solidarisierte sie sich mit den Forderungen der sozialen Bewegungen, gilt als Angehörige der Pfingstbewegung, aber auch bei den streng konservativen Evangelikalen als enge Verbündete. Sie lehnt die Homo-Ehe und eine Legalisierung der Abtreibung ab und verspricht der mächtigen Agrarlobby mehr Rechte.

"Flex-Motor der Politik"

Marina Silva will den Einfluss des Staates in der Wirtschaft zurückdrängen, sagt aber auch mehr öffentliche Investitionen in Bildung, Gesundheit und sozialen Wohnungsbau zu. "Sie verspricht einen dritten Weg in der Politik. Vor allem durch ihre Herkunft kann sie ganz neue Wählerschichten gewinnen", sagt Reinato Meirelles, Gründer des Meinungsforschungsinstitutes Data Popular. Kritiker nennen Marina Silva den "Flex-Motor der brasilianischen Politik", in Anspielung an die Autos, die sowohl mit Benzin als auch mit Ethanol fahren. "Es wird jedes Mal deutlicher, die Präsidentschaft ist Marina Silvas persönliches Projekt, koste es, was es wolle", meint der prominente Befreiungstheologe Leonardo Boff.

"Ich werde die absolute Armut ausradieren." Mit diesem Versprechen trat Dilma Rousseff 2010 ihre Präsidentschaft an. Rund 36 Millionen Brasilianer sind in den vergangenen zehn Jahren der Armut entkommen. Ihren größten Rückhalt findet die immer noch technokratisch wirkende Staatschefin deshalb auch bei den Wählern der städtischen Peripherie und im armen Nordosten. Doch die Wirtschaftsaussichten sind trübe, was Rousseff vor allem Skepsis der Mittelschicht einbringt. Sie verspricht die Weiterführung aller Sozialprogramme und mehr Geld für Bildung und Gesundheit. Wie sie das schaffen will, ist unklar. (Susann Kreutzmann aus São Paulo, DER STANDARD, 3.10.2014)