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Sofi Oksanen schlüpft nächste Woche in die Rolle einer finnischen Botschafterin und wird mit ihrer Rede die Frankfurter Buchmesse (8.-12. 10.) eröffnen.
STANDARD: Frau Oksanen, wissen Sie schon, worüber Sie in Frankfurt sprechen werden?
Oksanen: Ja. Der Titel lautet: "Santa Claus spricht Finnisch". Ich werde über finnische Werte sprechen und eine kleine Literaturgeschichte Finnlands und der ugrischen Sprachgruppen skizzieren.
STANDARD: Sie schlüpfen also ein wenig in die Rolle einer Botschafterin?
Oksanen: Als Künstlerin bin ich Künstlerin. Deswegen tue ich das zögerlich. Aber das entscheide ja letztlich nicht ich. Das ist bis zu einem gewissen Grad im Literaturbetrieb institutionalisiert.
STANDARD: Der Betrieb erwartet, dass Autoren ihre Länder vertreten.
Oksanen: So ist das wirklich. Aber ich kann natürlich keine Reiseführerin sein.
STANDARD: Dieser Aspekt ist auch deswegen von Belang, weil Sie so etwas wie Nationalliteratur schreiben. Allerdings geht es um zwei Nationen. Wie fanden Sie den Mut, sich so großen Themen zuzuwenden?
Oksanen: Ich wollte immer schreiben, insofern war es keine Überraschung. Mein erster Roman erschien 2003 in Finnland. Damals war zu bemerken, dass die russische Politik sich veränderte. Der Rest der Welt nahm davon zwar keine Notiz, aber seit Putin an die Macht kam, verhielt er sich aggressiv gegenüber den baltischen Staaten. Diese Aggression ist also nichts Neues. Gleichzeitig bemerkte ich, dass Leute in meinem Alter sich nicht für die Sowjetunion interessierten, auch nicht für Russland. Sie hielten das für einen alten Hut. Für Finnland und Estland ist das aber niemals ein alter Hut. Deswegen wollte ich darüber schreiben.
STANDARD: Gibt es in Finnland immer noch Vorurteile gegenüber Esten? Sie sind durch Ihre Mutter halbe Estin.
Oksanen: Ich wuchs zweisprachig auf, meine Schreibsprache ist Finnisch. Während der Sowjetzeit galten Esten in Finnland als Russen, danach brauchte es eine Weile, um die Stereotype über Osteuropäer zu überwinden: Alle Frauen sind Prostituierte, alle Männer sind kriminell. Heute würde Finnland ohne Esten auf dem Arbeitsmarkt nicht überleben, jedenfalls nicht ohne Ärzte aus Estland. Außerdem fahren die Finnen oft nach Estland. Die Reisefreiheit hat eine Menge dazu beigetragen, dass inzwischen weniger Vorurteile herrschen. Und diese Vorurteile trieben mich zu Beginn meines Schreibens auf jeden Fall um.
STANDARD: Ihr neuer Roman "Als die Tauben verschwanden" führt in die Geschichte Estlands im Zweiten Weltkrieg. Da steckt offensichtlich eine Menge historischer Recherche dahinter. Wie gehen Sie dabei vor?
Oksanen: An die Sowjetunion kann ich mich selbst noch erinnern, aber damals gab es wenig Informationen, Dokumente waren kaum zugänglich. Seit der Unabhängigkeit haben neue Generationen von Historikern exzellente Arbeit geleistet. Der KGB machte, als er sich aus Estland zurückzog, einen Deal und nahm den Großteil der Archive mit. Einen Teil aber konnten die Esten sicherstellen, das wurde auch veröffentlicht. Wenn man solche KGB- Berichte liest, ist klar: Das ist eine wichtige Quelle. Ich verglich auch die Sprache deutscher und sowjetischer Geheimdienste, das ist eine faszinierende Arbeit, bei der es einem kalt den Rücken hinunterläuft.
STANDARD: Wie schreiben Sie dann konkret? Sind zuerst Figuren da? Oder Szenen? Oder ein großer Bogen?
Oksanen: Zuerst ist immer ein Thema da. Bei meinem Roman wusste ich, dass ich über den Übergang zwischen deutscher und sowjetischer Besatzung in Estland schreiben wollte. Der Rest kam dann. Ich weiß anfangs nicht viel über meine Figuren. Ich möchte, dass sie mich überraschen. Die Recherche ist da schon getan. Schreiben ist dann der angenehme Teil.
STANDARD: Könnte es sein, dass Sie anfangs in erster Linie über Judiit schreiben wollten, dass aber die Figur des Edgar Sie stark "überrascht" hat?
Oksanen: Ja. Das war eine außergewöhnliche Figur, denn sie hat eine historische Entsprechung. Ich war überrascht, dass es Leute gab, die zuerst für die Deutschen und dann für die Sowjets gearbeitet hatten, denn eigentlich wurden alle, die mit der deutschen Besatzung zu tun gehabt hatten, nach dem Einmarsch der Sowjets umgebracht. Einer dieser Männer, von denen ich in Berichten las, war interessanter als die anderen. Er hatte eine Obsession für Luftfahrt und gab sich als Pilot aus. Wir kennen Geschichten über falsche Ärzte, aber sich einen Beruf anzudichten, an dem so viel Verantwortung hängt! Er behauptete, er hätte Lenin geflogen, gab Interviews darüber in der SU-Presse, fälschte Fotos von sich selbst, er war ein geborener Lügner. Ich wollte verstehen, warum er das war, was für ein Mensch er war.
STANDARD: Ihre Romane springen zwischen Szenen und Zeiten. Wie entsteht so ein Text? Wird zuerst eine Erzählung geschrieben, die dann dekonstruiert wird, oder sind von vornherein die Szenen autonom?
Oksanen: Ich schreibe einfach, der Rest ist endloses Montieren.
STANDARD: In "Fegefeuer" geht es um Zwangsprostitution und um sexuelle Gewalt auch in historischer Dimension. Welche Quellen hatten Sie?
Oksanen: Es gibt viele Berichte, investigative Journalisten und Menschenrechtsorganisationen lenken die Aufmerksamkeit auf Menschenhandel und Ausbeutung. Vergewaltigung als Kriegswaffe ist so alt wie die Welt selbst, aber darüber gibt es nicht so viel.
STANDARD: Der Zweite Weltkrieg bildet die eine Schwelle Ihrer erzählerischen Welt, die andere ist 1989 und die Öffnung nach Westen. Welche Auswirkungen hatte die europäische Integration für das Baltikum?
Oksanen: Sie ist von entscheidender Bedeutung. Estland hat heute den Euro gehört und gehört zur Nato, ist also eigentlich stärker integriert als Finnland.
STANDARD: Wie sieht es mit dem Lebensstandard aus?
Oksanen: Es geht nicht um den Lebensstandard, es geht um Sicherheit. Ich fürchte, das ist den Esten viel wichtiger.
STANDARD: Was halten Sie vor diesem Hintergrund von der EU-Politik gegenüber Russland?
Oksanen: Die Ukraine ist zu ihrem Unglück nicht Mitglied der EU und der Nato. Und ich fürchte, die Welt interessiert sich nicht ausreichend für die Sicherheit der Ukraine. Die gute Seite der Sache ist, dass nun niemand mehr so tun kann, als wäre Russland auf dem Weg zu einer Demokratie. Die russische Propaganda hat sich offen gezeigt, die Weltmedien wissen nun Bescheid. Die Ukrainer aber tun mir wirklich leid. Die EU braucht unbedingt eine gemeinsame Außenpolitik, das muss primär sein - auch deswegen, weil von den rechten Parteien in Europa so viele Russland unterstützen.
STANDARD: Eine bizarre List der Unvernunft.
Oksanen: Das kann man wohl sagen, aber das dividiert die EU auseinander, und das erscheint mir als ein wichtiges Problem.
STANDARD: Gelegentlich fällt das Wort von einer "Finnlandisierung" der Ukraine. Wie hört sich das für Sie an?
Oksanen: Ich verstehe ganz und gar nicht, wie man das für die Ukraine vorschlagen kann. Außerdem hat niemand nach der finnischen Meinung über die Finnlandisierung gefragt. Wir tragen das niemandem an. Denn gemeint ist damit ein Modell reduzierter Unabhängigkeit. Wer kann das wollen?
STANDARD: Sie sprechen in Deutschland, Sie werden gehört werden. Haben Sie einen Ratschlag für die Politiker?
Oksanen: Wir müssen mit einer Stimme sprechen und uns auf ein Verständnis der russischen Aggression einigen. Noch wissen wir nicht, wie es in der Ukraine weitergeht, ob es bei einem eingefrorenen Konflikt bleibt oder ob Russland die Landverbindung zur Krim erobern will. Eines aber erscheint mir sicher: Die territoriale Integrität anderer Länder wird auch bedroht und verletzt werden. Die Reaktionen in Europa waren langsam, aber besser als nichts. Eines ist mir wichtig: Wir brauchen einen großen unabhängigen russischen Fernsehsender.
STANDARD: Der nach Russland sendet?
Oksanen: Ja. Wir müssen die Informationssphäre wichtiger nehmen. In den baltischen Ländern ist das eine Binsenweisheit. Das russische Fernsehen sendet nur Lügen. Es gibt viele exzellente russische Journalisten, die im Ausland arbeiten. Russland verdient ein gutes Medium. Im Baltikum gibt es so etwas, aber die Ressourcen sind gering. Wir könnten es gemein-sam tun. (Bert Rebhandl, Album, DER STANDARD, 4./5. 10. 2014)