Soziologe Jens Dangschat sagt, Österreich sei bei Flüchtlingsströmen "fein raus". Das Problem werde von der Politik hochstilisiert.

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Die Mittelschicht will die Stadt gestalten und kontrollieren, sagt Soziologe Dangschat, "alles andere" solle aus ihrer Sicht "Platz haben, einem aber bitte nicht täglich über den Weg laufen".

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STANDARD: Vielfalt ist ein schönes Schlagwort. Aber wird sie nicht vor allem von Menschen diskutiert, die von den Schwierigkeiten der Vielfalt ohnehin nicht betroffen sind?

Dangschat: Was gute Integration ist, wird von oben und außen von Menschen definiert, die in eher homogenen Wohngebieten leben, die mit Menschen aus der eigenen sozialen Gruppe arbeiten und deren Kinder nicht in Schulen in sozialen Brennpunkten gehen. Geht es konkret darum, sich mit Andersdenkenden auseinanderzusetzen, etwa Fragen zu diskutieren, wie sich die eigenen Kinder ernähren sollen, ist die Toleranzgrenze dann oft gerade auch in den gebildeten Mittelschichten schnell ausgereizt. Es stimmt mich sehr bedenklich, dass die vermeintlich tolerante Mittelschicht die Stadt immer mehr nach ihren eigenen Vorstellungen gestalten und kontrollieren will. Alles andere soll zwar Platz haben, einem aber bitte nicht täglich über den Weg laufen und eher am Stadtrand unterkommen.

STANDARD: Gerade in Hinblick auf die aktuelle Debatte um die Aufnahme von Flüchtlingen - warum macht Vielfalt so vielen Menschen Angst?

Dangschat: Menschen haben dann Angst, wenn sie sich über ihre eigene Position nicht klar sind oder sich nicht mehr respektiert fühlen, wenn sie verunsichert sind, was mit ihnen wird, wie die Familie über die Runden kommt, wie die Arbeitssituation sein wird, wie es um die Altersversorgung steht. Die junge, gut gebildete Generation kann all das als Herausforderung wahrnehmen, aber viele wollen keine Veränderungen, weil sie spüren, dass sich die Situation zu ihrem Schlechten verändern könnte. Flüchtlinge und Migranten sind Projektionsfläche, um diese Ängste auszuleben.

STANDARD: Sie sagen, dass die ethnische Frage nicht von der ökonomischen zu trennen sei. Das bedeutet, dass für ineffiziente Vielfalt - wie Asylwerber, die nicht arbeiten dürfen - kein Platz ist. Was macht die Politik aus soziologischer Perspektive falsch?

Dangschat: Die Politik verhält sich ähnlich wie die Mittelschicht. Auf der einen Seite wird gefordert, aber selbst will man nichts verändern. Spanien und Italien sollen entlastet werden, aber geht es darum, wo man die Menschen unterbringen könnte, will keiner einspringen. In Österreich hat man die gleiche Situation. Traiskirchen ist überlaufen, aber die Länder müssen zigmal bekniet werden, weil die wiederum wissen, dass sie kaum Gemeinden finden, die sich zur Aufnahme bereiterklären. Mit dem neuen Verteilungsschlüssel - pro 266 Einwohner ein Asylwerber - kann man sich nun am Bund abputzen. Der Rest interessiert nicht. Es wird nur herumgeschoben. Asylwerber sind die heiße Kartoffel, die niemand zu lange in der Hand halten möchte.

STANDARD: Wie könnte politisch gegengesteuert werden?

Dangschat: Das Skurrile ist ja, dass wir in Deutschland und Österreich mit beschämend geringen Zahlen arbeiten. Die Türkei musste durch ihre Grenzlage gerade auf einen Schlag 120.000 Menschen aufnehmen, und das unter volkswirtschaftlich ganz anderen Bedingungen. Die EU hätte nie diese rigide Regelung treffen sollen, dass Flüchtlinge nur dort um Asyl ansuchen dürfen, wo sie zuerst ihren Fuß hinsetzen. Länder wie Deutschland und Österreich sind damit fein raus. Das Problem wird also hochstilisiert, man könnte mit der Anzahl an Flüchtlingen, mit der wir konfrontiert sind, klarkommen, aber die Politik auf allen Ebenen traut sich nicht.

STANDARD: Vielfalt kann auch Extreme annehmen, wenn etwa junge Erwachsene aus unserer Mitte in den Heiligen Krieg ziehen. Wie kann man Grenzen definieren?

Dangschat: In Deutschland wird intensiv diskutiert, wie weit man Grundrechte einschränken kann. Man sollte versuchen, das Problem an der Wurzel anzupacken. Die meisten jungen Männer, die zur Terrorgruppe IS gehen, haben migrantischen Hintergrund. Sie haben hier ein relativ modernes muslimisches Leben geführt, waren aber frustriert, weil sie sich in der Gesellschaft nicht respektiert fühlten. Sie haben keine Heimat und sehen keine Zukunft für sich. Um zu zeigen, dass sie da sind, wollen sie provozieren und Aufmerksamkeit erregen. Im Extremfall, indem sie in den Heiligen Krieg ziehen und für eine Verheißung bereit sind zu sterben. Uns macht das fassungslos, aber aus deren Situation heraus, in der sie nichts Positives sehen, ist die Entscheidung nachvollziehbar.

STANDARD: Tickt da eine Zeitbombe?

Dangschat: Jetzt wird diskutiert, dass auch bei uns Kinder von Salafisten oder Grauen Wölfen aus Kindergärten und Schulen abgeholt und radikalisiert werden. Das wissen Fachleute seit zehn Jahren, aber die Verantwortlichen und letztlich die Gesellschaft wollten es nicht wahrhaben. Inzwischen gibt es Videos, in denen gedroht wird, dass man sich demnächst auch in österreichischen Städten wahllos Bürger schnappen und demonstrativ auf dem Marktplatz köpfen will - ob das eine reale Gefahr ist oder ob jemand Angst und Hass schüren möchte, ist aber schwierig abzuschätzen.

STANDARD: Was kann jeder Einzelne tun?

Dangschat: Es sollte alles dafür getan werden, die Zivilgesellschaft zu stärken. Ich beobachte aber das genaue Gegenteil. Denn die gesellschaftliche Vielfalt trägt auch dazu bei, dass sich gerade die bürgerliche Mitte in ihr schmales, vertrautes Spektrum zurückzieht. (Katharina Mittelstaedt, DER STANDARD, 6.10.2014)