Benjamin Barber: "Nationaler Patriotismus kann giftig sein, Städtepatriotismus ist gesund."

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STANDARD: Sie sagen, Städte werden in Zukunft an Bedeutung gewinnen. Warum?

Barber: Die Urbanisierung findet seit 300 Jahren statt. Menschen ziehen in Städte und diese wachsen. Im 19. Jahrhundert lebte der Großteil noch auf dem Land, heute ist es anders, überall auf der Welt lebt die Mehrheit in Städten. Es sind mindestens 51 Prozent, in Europa und den USA bis zu 80 Prozent.

STANDARD: Was ist der Vorteil von Städten?

Barber: Gerade Menschen, die sich ein wenig anders fühlen, sind in Städten gut aufgehoben: Schwule, Immigranten, Angehörige einer religiösen Minderheit. Sie fühlen sich in einer Stadt sicherer. Auch Künstler ziehen in Städte, hier findet Austausch statt, hier ist man kreativ. Menschen wollen einfach andere Menschen um sich herum haben und nicht ganz allein auf einem Bauernhof leben. Sie wollen Konflikte und Interaktion.

STANDARD: Der Abzug vom Land wird allerdings oft auch negativ gesehen.

Barber: Ja, aber ich finde es nicht gut, wenn Menschen dauernd von der "Landflucht" sprechen. Ein junger Mann, der von North Dakota nach New York zieht oder eine Frau, die von der ländlichen Schweiz nach Zürich geht - diese Leute fliehen doch nicht, sie fühlen sich angezogen von der Stadt. Flucht klingt so negativ. Menschen wählen diesen Schritt aus positiven Gründen.

STANDARD: In Ihrem Buch "If Mayors ruled the World" schreiben Sie Bürgermeistern eine entscheidende Rolle zu. Warum wird ihr Einfluss steigen?

Barber: Weil Städte automatisch kooperativer sind. Bürgermeister haben eine größere Chance, Probleme zu lösen als Ministerpräsidenten. Wenn sich Putin und der Premierminister der Ukraine treffen, dann garantiere ich Ihnen, dass dabei weniger herauskommt, als wenn sich die Bürgermeister von Kiew und Moskau treffen.

STANDARD: Was passiert mit den Nationalstaaten, wenn Städte immer wichtiger werden?

Barber: Natürlich werden sie nicht verschwinden. Sie haben ein Militär, sie haben Budgets und Gerichte. Aber ich werde älter und meine Kinder einflussreicher; die jungen Leute werden irgendwann bedeutender als die Alten. Es ist also vergleichbar mit einem Generationenwechsel.

STANDARD: Was können Städte voneinander lernen? Warum muss es zwischen den Städten ein Netzwerk geben?

Barber: Alle Städte haben irgendwie dieselben Probleme: Öffentlicher Verkehr, Schulen, das Gesundheitssystem, die Müllentsorgung - das alles gehört organisiert. Bürgermeister haben also ähnliche Herausforderungen. Die verstärkte Kooperation existiert nicht nur in meinem Kopf, sondern wird auch bereits umgesetzt. 32 Städte nehmen an unserem Pilotprojekt, dem Bürgermeisterparlament, bereits teil, darunter auch Graz und Wien. Es soll ein globales Netzwerk werden, um die Probleme der Welt zu lösen. Es geht darum, globale Themen beim Namen zu nennen, an die sich sonst niemand herantraut: Klimawandel, Kriminalität, Migration.

STANDARD: Menschen sind allerdings oft sehr stolz auf ihre Nation. Man muss sich nur an die Fußball-WM im Sommer erinnern. Die Deutschen waren stolz auf ihre Nationalmannschaft so wie die Brasilianer auf die ihre.

Barber: Ja, aber genauso schauen sich die Menschen die Champions League an, in der Vereine aus großen Städten gegeneinander spielen. Was Sie ansprechen, ist der nationale Patriotismus. Da geht es um Volkszugehörigkeit, Sprache und Religion. Nationaler Patriotismus ist zwar manchmal schön, führte aber zu den beiden Weltkriegen, zu Genozid. Beim Städtepatriotismus hingegen wird niemand ausgegrenzt. Städte sind multikulturell, das Problem des Andersseins gibt es nicht.

STANDARD: Trotzdem definieren sich noch viele über ihr Land, nicht über ihre Stadt. Menschen sagen: "Wir Österreicher!"

Barber: Deshalb möchte ich auch, dass die Menschen ihre Denkweise ändern. Es ist ein gefährlicher Weg, so zu denken. Das hat schon in der Vergangenheit zu Kriegen geführt. Nationaler Patriotismus kann giftig sein, Städtepatriotismus ist gesund.

STANDARD: Sie sprechen von den Nationalstaaten, die sich gegeneinander aufbringen. Warum ist es der EU nicht gelungen, das aufzufangen?

Barber: Es war ein guter Versuch, aber man hat den Fokus nicht auf die Städte und Regionen gelegt. Jetzt hat das die EU zwar erkannt, es funktioniert aber nicht, Regionalisierung von oben zu verordnen. In Wahrheit brauchen die Städte die EU nicht, um mehr Einfluss zu gewinnen und besser zusammenzuarbeiten.

STANDARD: Konkret zu Wien: Wie soll die Vernetzung ausschauen?

Barber: Wien hat eine starke Geschichte, war das Zentrum von Österreich-Ungarn. Wien ist multikulturell und war immer sehr offen. Die Stadt muss daher in Zentral- und Osteuropa eine führende Rolle einnehmen. Wien darf dabei nur nicht zu arrogant agieren, diese Gefahr besteht. Lösungen müssen gemeinsam gefunden werden. (Rosa Winkler-Hermaden, DER STANDARD, 7.10.2014)