Am Wochenende fanden Parlamentswahlen in zwei postkommunistischen Staaten - Lettland und Bulgarien - statt. Beide hatten ihre Unabhängigkeit und Freiheit vor einem Vierteljahrhundert infolge des Zusammenbruchs des Sowjetreiches friedlich wieder gewonnen. Beide Staaten sind Mitglieder der EU und der Nato. Trotz der scheinbaren Übereinstimmung der beiden früheren Parteidiktaturen ist aber ihre politische und wirtschaftliche Bilanz grundverschieden. Lettland gilt als das Land einer hart erkämpften Erfolgsstory, während Bulgarien, das man einst wegen Disziplin und Fleiß seiner Bewohner das "Preußen des Balkans" nannte, im Sumpf allgegenwärtiger Korruption versinkt.

Dass eine klare Mehrheit der lettischen Wähler für die Parteien der regierenden gemäßigten Koalitionsregierung und ihren erfolgreichen wirtschaftspolitischen Kurs stimmen würde, war von den meisten Beobachtern vorausgesehen. Das Land stand 2008 am Rande des Staatsbankrotts. Im Gegensatz zu den meisten EU-Staaten hat das baltische Land dank internationaler Kredite und eines harten Sparkurses der Regierung die Finanzkrise bewältigt und bezüglich Wirtschaftswachstums in die europäische Spitzengruppe aufgerückt.

Die 63-jährige Ministerpräsidentin Laimdota Straujuma hat das Amt erst Anfang dieses Jahres vom Architekten des kleinen "Wirtschaftswunders", dem 43-jährigen früheren Finanzminister und Premier Valdis Dombrowskis, übernommen, der nach dem Einsturz eines Supermarktes in Riga überraschend zurücktrat. Nun gelang es der umgänglichen und gemäßigten Wirtschaftsexpertin, den Vorsprung ihrer Partei auszubauen, während Dombrowskis, der das Land in die Eurozone geführt hat, die Schlüsselposition eines Vizepräsidenten der EU-Kommission, verantwortlich für die Euro-Fragen, einnehmen wird.

Für den international hochgelobten Sparkurs mussten freilich öffentlich Bedienstete, Pensionisten und Angestellte einen hohen Preis zahlen. Dass trotz der Unzufriedenheit breiter Schichten mit der Sozialpolitik das linksgerichtete prorussische Harmonie-Zentrum unter der Leitung des russischsprachigen langjährigen Bürgermeisters von Riga, Nils Usakov, statt der erhofften Regierungsbeteiligung sogar sechs Mandate eingebüßt hat, geht auf das Konto des ehrgeizigen Politikers. Mit seiner spektakulären Moskau-Reise vor den Wahlen und der abgelehnten Verurteilung der Annektierung der Krim verspielte seine noch immer stimmenstärkste Partei die einmalige Chance, auch Stimmen der ethnischen Letten (62 Prozent der zwei Millionen Einwohner) zu gewinnen. Die Benachteiligung der großen russischen Minderheit (27 Prozent) verletzt die europäischen Werte. Putins Expansionspolitik stärkt aber das historisch gerechtfertigte Misstrauen und Angst der lettischen Nation und trägt dadurch indirekt zur Radikalisierung der rechtlich und sprachlich diskriminierten ethnischen Russen bei.

In Bulgarien geht das Gespenst der Unregierbarkeit von innen infolge der Selbstzerstörung einer korrupten politischen Klasse um. In Lettland wirkt das Trauma der brutalen Russifizierung infolge des Schocks der Krim als Faktor der Instabilität von außen. (Paul Lendvai, DER STANDARD, 7.10.2014)