Familienbande, dicker und zähflüssiger als frischer Honig: Alba Rohrwacher und Sam Louwyck mit Filmtöchtern Agnese Graziani als Marinella (re.), Eva und Maris Stella Morrow in "Land der Wunder".

Foto: filmladen

Bild nicht mehr verfügbar.

Regisseurin und Kinoliebhaberin Alice Rohrwacher.

Foto: EPA/VITTORIO ZUNINO CELOTTO

Wien - In einem alten Haus in der Toskana leben Vater, Mutter und vier Töchter. Die Familie pflegt wilde Bienenvölker. Der Verkauf von Honig sichert ihr Einkommen. Die zwölfjährige Gelsomina (Maria Alexandra Lungu) erledigt viel Arbeit konzentriert und professionell. In dieses freie, aber von Anforderungen und Unwägbarkeiten einer naturnahen Existenz geprägte Leben platzt eines Tages ein TV-Team um Moderatorin Milly Catena (Monica Bellucci): In einer Show sollen die besten regionalen Produkte gekürt werden. Die familiären Beziehungen geraten aus dem Gleichgewicht.

Regisseurin und Autorin Alice Rohrwacher gilt seit ihrem Debüt Corpo celeste (2011) als vielversprechende Newcomerin. In ihrem zweiten Kinofilm Land der Wunder / Le meraviglie stellt sie mit der ernsthaften Gelsomina erneut ein Mädchen an der Schwelle zum Erwachsenwerden ins Zentrum einer immer wieder ins Märchenhafte ausreißenden Erzählung. Und nicht nur die Tatsache, dass sie diesmal auch ihre Schwester, die gefeierte Schauspielerin Alba Rohrwacher, besetzt hat, legt die Frage nahe: Wie viel vom eigenen Familienhintergrund steckt in ihrem Film?

Rohrwacher: Mein Film ist nicht autobiografisch. Aber ich habe in meiner Heimatstadt gedreht. Ich komme aus einer Bienenzüchterfamilie, habe also keine Angst vor Bienen - das war hilfreich. Und bei uns leben viele Zugereiste im Alter meiner Eltern. Diese Generation hat probiert, die Welt zu verändern, ihnen wollte ich sagen: Auch wenn ihr gescheitert seid - ihr habt das toll gemacht!

STANDARD: Abgesehen von Ihrer Schwester Alba, Monica Bellucci und Sabine Timoteo haben Sie Laien besetzt.

Rohrwacher: Den Vater spielt der belgische Tänzer Sam Louwyck - es ist eine Mischung aus Profis und Leuten von dort, ihren Kindern, Tieren. Wir sind beim Drehen zu einer Art Kino zurückgekehrt, das sehr nah am Zirkus ist!

STANDARD: Haben Sie Gelsomina deshalb nach Fellinis berühmter Figur aus "La Strada" benannt?

Rohrwacher: Nicht ich habe sie so genannt, sondern ihre Eltern. Ich will damit sagen, dass sie das Kino lieben, die Musik, die Künste - auch wenn sie auf dem Land leben. Ich konnte das nicht breiter ausführen, aber einem Kind einen Namen zu geben ist sehr bedeutsam. Marinella, die Zweitälteste, heißt so nach Fabrizio De Andrés Lied.

STANDARD: "Land der Wunder" beginnt ähnlich wie "Corpo celeste": Es ist dunkel, früher Morgen - spärliche Lichtquellen tauchen auf. Was hat es damit auf sich? Und was interessiert Sie an Teenagermädchen?

Rohrwacher: Das ist Zufall, aber jeder Zufall ist auch ein Mysterium - er bedeutet nichts und alles. Ich nehme die Mädchen als sehr verschieden wahr; dass sie gleich alt sind, das hat sich erst durch die Besetzung ergeben. Was die Dunkelheit betrifft: Das ist meine Art zu sagen, wie sehr ich das Kino liebe. Es ist dunkel. Es gibt eine Lichtquelle - und aus der erwächst eine Geschichte, Erinnerungen, eine Erfahrung. Aber es ist immer ein Lichtspiel. Deshalb beginnen meine Geschichten dort, mit einem Licht, einer Suche. Beim ersten Mal waren es Handy-Displays, diesmal Autoscheinwerfer.

STANDARD: Sie drehen auf Film?

Rohrwacher: Als ich das Kino entdeckt habe, war es für mich das Modernste überhaupt, eine Revolution für mein Leben! Und dann musste ich mir anhören: Aber geh, das Kino ist schon alt! Ich bin ja selbst Teil der "digitalen Generation", aber ich habe nichts anderes gefunden, das so stark und modern auf mich wirkt. Weil es nicht altert - und weil man es nicht kontrollieren kann. Wenn ich alles unter Kontrolle habe, werde ich schnell gelangweilt. Wenn es kein Filmmaterial mehr gibt, dann werde ich diesen Beruf aufgeben.

STANDARD: Wie haben Sie das Kino entdeckt?

Rohrwacher: Eigentlich hat das Kino mich gefunden. Ich bin an einem Ort aufgewachsen, wo es kein Kino gab. Erst während des Studiums habe ich dann diese wunderbare Welt entdeckt. Es ist für mich der Ort, wo alles Platz hat, was widersprüchlich ist, was sich entziehen will - all diese Erfahrungen kommen zusammen, in einem Bild. Man kann sich das ansehen, und es fühlt sich gut an.

STANDARD: Haben Sie Verbündete unter italienischen Filmschaffenden?

Rohrwacher: Ja, es gibt momentan viele gute Regisseure, Matteo Garrone zum Beispiel, viele Dokumentarfilmer. Aber es gibt keinen Willen, ihre Arbeit zu verbreiten. Wenn es nämlich ein gebildetes Publikum gäbe, dann würde das Machtverlust bedeuten. Politik baut in Italien extrem auf Medienpräsenz auf, daher will man keine denkenden Zuschauer. Es ist also schwierig, Filmprojekte zu verwirklichen, die zum Denken anregen. Trotzdem ist das nicht ausschließlich negativ - wenn unter diesen Bedingungen gute Filme entstehen, dann sind sie dafür oft sehr gut. (Isabella Reicher, DER STANDARD, 8.10.2014)