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Erste VR-Brillen wie Project Morpheus dürften Spieler 2015 in die virtuelle Realität entführen.

Foto: Reuters / Yuya Shino

Als Bungee-Jumper an der Kante eines Hausdachs herunterzublicken lässt die meisten Menschen vor Angst erstarren. Noch bevor einem das Gehirn sagt, dass man sich, an einem Seil hängend, in Sicherheit wiegen kann, haben sämtliche unbewussten Systeme bereits Alarm geschlagen. Das im Gehirn gespeicherte Wissen kann noch so laut argumentieren, dass einem nichts geschehen könne, wenn alle Rezeptoren das Gegenteil behaupten. Die Realität ist nicht mehr als die Summe unserer Wahrnehmungen.

Ein Phänomen, das sich auch Entwickler von Virtual-Reality-Systemen (VR) zunutze machen und das immer mehr davon überzeugt, dass VR die nächste große Medienrevolution bringen wird. "Wir könnten auch alle Gehirne in einem Glastank sein, die an einer Reihe von Kabeln hängen. Unsere Realität ist nicht mehr oder weniger als die Summe der Schlussfolgerungen, die von einer Vielzahl unbewusster Prozesse gemacht wurden, angetrieben von einem Körper voll Sensoren", erklärte Michael Abrash, Entwickler-Urgestein und leitender Forscher des VR-Spezialisten Oculus, im September im Rahmen der Hausmesse Oculus Connect.

"Präsenz" wird der Schlüssel für ein glaubhaftes Erlebnis der virtuellen Art genannt. Mit Spezialdisplays vor den Augen, die einen Rundumblick ermöglichen, und Surround-Kopfhörern an den Ohren lässt Präsenz, unsere dominanten Sinnesorgane manipulierend, die Grenzen zwischen dem fiktiven Bild und dem Realitätsverständnis verschwimmen. Im Unterschied zu den Gehversuchen in den 1980er-Jahren ist die Technologie den Experten zufolge heute weit genug fortgeschritten.

Erstmals gut genug

Zu verdanken sei dies gemäß Abrash den Früchten des Smartphone-Kriegs. Handys hatten Hersteller dazu bewogen, massiv in die Miniaturisierung von Kernkomponenten wie Displays, Chips, Optiken oder Bewegungssensoren zu investieren. Gleichzeitig ist es der Videospielindustrie geschuldet, dass Prozessoren und Software heute so weit sind, glaubhafte, virtuelle Welten zu berechnen.

"Was jetzt schon funktioniert, ist, dass man den Körper glauben macht, tatsächlich an einem anderen Ort zu sein. Das ist heute ganz knapp möglich. Aber das reicht schon", so Abrash. "Erstmals gut genug", lautet das Credo aller beteiligten Parteien im Rennen um das neue Marktsegment. Oculus, 2014 für zwei Milliarden Dollar von Facebook übernommen, arbeitet primär an Lösungen namens Rift für rechenstarke PCs und parallel dazu mit Samsung an Smartphone-Adaptierungen.

Sony werkt mit Project Morpheus an einer VR-Brille für die Spielkonsole PlayStation 4. Daneben entstehen einige weitere Produkte hinter verschlossenen Vorhängen. Für 2015 wird der Start in den Massenmarkt erwartet. Dann soll wenigstens für Early Adopter die Balance aus Preis und Leistung erreicht worden sein.

Abseits der wirtschaftlichen Komponente sei laut Morpheus-Ingenieur Anton Mikhailov entscheidend, dass aktuelle VR-Ambitionen eine nicht gekannte Euphorie unter Spiel- und Softwareherstellern ausgelöst haben. "Ich glaube, die Begeisterung der Pioniere wird viele Leute anstecken", so Mikhailov gegenüber dem Fachmagazin Edge. Funktionierende Hardware sei die eine Sache, doch es werde vor allem auf die Erlebnisse ankommen, Konsumenten zu begeistern. "Wer immer die erste große Anwendung für VR macht, wird einschlagen."

Chance oder Dystopie

Kritiker monieren, dass sich die Branche hier wie schon bei anderen vermeintlichen Technologierevolutionen im Blindflug befindet. Die IT-Seite Polygon postulierte erst kürzlich, dass VR genauso scheitern werde, wie bereits 3-D-Fernseher und andere Gadgets zuvor. Doch für Verfechter ist dieser Blindflug genau die Triebkraft der neuen Plattform. Sie bietet Möglichkeiten für praktisch unbegrenzte Erfahrungen - vom digitalen Tourismus über Flugsimulatoren, Videospiele bis hin zu gigantischen virtuellen Welten fürs Zweitleben.

"Es ist das Ende einer Reise, die mit Sprache und Zeichnungen angefangen und mit Schrift, Druck, Telefonie, Radio, Filmen, TV und Computerspielen fortgesetzt wurde", ist sich Abrash sicher. "VR wird uns letzten Endes ermöglichen, mit Informationen in einer Weise zu interagieren, wie wir mit der Realität interagieren." Zynisch betrachtet, könnte dieser Flug irgendwann vielleicht in einer Dystopie wie der Matrix landen. Man kann diese Anfänge aber auch als Chance begreifen, die Zukunft positiv zu gestalten. "Die Frage ist nicht, ob VR geschehen wird, sondern wie wir den Weg dahin beschreiten." (Zsolt Wilhelm, derStandard.at, 13.10.2014)