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Der Lastwagenfahrer Foad reiste nach Syrien, um seine 15-jährige Schwester Nora zu befreien.

Foto: REUTERS/Christian Hartmann

Sie soll Lea heißen, ist 15 Jahre alt und lebt irgendwo in Frankreich. "Eines Tages hinterließ ich auf Facebook die Botschaft, es gehe mir nicht sehr gut", erzählte das Mädchen diese Woche dem Magazin "Le Nouvel Observateur". "Da haben mich viele Leute als 'Freunde' angeklickt und dann Kontakt aufgenommen."

So beginnt die Geschichte einer Höllenfahrt, die gerade noch rechtzeitig gestoppt werden konnte. "Die Leute", das waren Islamisten. Sie schickten Lea Videos des französischen Films "19HH", der die Terroranschläge auf die New Yorker Twin Towers unterschwellig in die Apokalypse der Welt einordnet.

Paradiesversprechen

Bald wurde die Frau aufgefordert, als humanitäre Helferin in den "Shâm" - arabisch für die Levante - zu reisen. Man zeigte ihr Videos von der Vergasung von Säuglingen durch das syrische Assad-Regime. "Sie sagten mir, wenn ich dorthin reise, würde das 70 Menschen ins Paradies bringen", berichtete Lea, die bald einwilligte, in die Türkei und mit einem Schlepper nach Syrien zu reisen, um dort einen ihr zugeteilten Mann zu heiraten.

Kurz vor der Abreise entdeckten die Eltern die Internetkontakte. Lea kam auf die Polizeiwache und vor den Jugendrichter. Dabei blieb es vorerst, auch wenn sie ohne ihr Wissen überwacht wurde. Ihre Internetkontakte schickten ihr nun Bilder getöteter palästinensischer Kinder und wiesen sie an, einen Terroranschlag in Frankreich zu verüben.

"Als Erste sprach mich eine Frau darauf an", erzählte Lea dem "Nouvel Observateur". "Ich hatte schon den Ort und das Mittel gefunden, mir Waffen zu besorgen." Jetzt verhaftete sie der französische Geheimdienst, der ihr Telefon überwachte. "Nach zwei Tagen Untersuchungshaft begann ich alles zu begreifen, als ich den Zustand meiner Eltern sah", erzählte die 15-Jährige, schockiert über das neue Herzleiden ihrer Mutter.

Gehirnwäsche per Video

Leas Fall sei typisch für da Abgleiten junger Franzosen in die Jihadkreise, meint Dounia Bouzar, Gründerin eines "Islamsektenzentrums" (CPDSI), das erst seit gut einem Jahr besteht und auf Elternanrufe hin schon 447 Fälle behandelt hat. Meist beginne es mit manipulativen Videos, dem Auftakt zu einer eigentlichen Gehirnwäsche, meint Bouzar; dabei würden die Zielscheiben aus den desolaten Vorstadtsiedlungen durch mehrere Kontaktpersonen gleichzeitig unter massivsten Druck gesetzt.

Um die neuen Ausreiseverbote der französischen Regierung zu umgehen, würden die jungen Frauen und Männer angeleitet, sich die Haare zu färben und um gut 100 Euro falsche Papiere zu beschaffen. Den Frauen werde ein Mann in Syrien zugeteilt, der sie sofort zu schwängern habe, um ihnen die Rückkehr zu erschweren. Sie erhielten ein Telefon, mit dem sie von den Daheimgebliebenen Geld verlangen könnten.

Telefon abgehört

Dank der Abhörung der Gespräche gewinnt der französische Geheimdienst DGSI Erkenntnisse über den Werdegang vieler "Banlieue-Jihadisten". Die Zeitung "Le Monde" veröffentlichte am Mittwoch Gesprächsausschnitte von einem Trio aus Cannes. Kader, 26, wollte in die französische Marine, wurde aber abgewiesen; in der Küche eines Luxushotels der Stadt hielt er es nicht lange aus. "Sie sagen dir jedes Mal, du kannst ja gehen, wenn es dir nicht passt", erzählte Kader am (abgehörten) Telefon, als er bereits in Syrien war.

Dorthin war er, der den Koran nie von innen gesehen hatte, ebenfalls gereist, um "humanitäre Hilfe" zu leisten; alsbald trat er aber in den heiligen Krieg über. "Hier ist Jihadist ein Beruf wie Bäcker oder Installateur", sagte er den Angehörigen zu Hause in Cannes. Dann wurde Kader im Kampf verletzt und ausgemustert. Jetzt hatte er genug. Auf seiner Rückreise nach Cannes wurde er in Italien verhaftet. Auf ihn wartet eine mehrjährige Haftstrafe.

Anwerbung am Pool

Sein Freund Ibrahim, 24, war ebenfalls Kochlehrling, bevor er nach Syrien flog. In Kontakt mit dem Jihad kam er, als er einmal am Rand eines Swimmingpools eine Zigarette rauchte und ihm ein Mann in einer Jellaba auf den Finger klopfte. "Dieser Finger wird normalerweise für reine Dinge wie das Ausstrecken während des Gebets benutzt", sagte er und ging weiter. Alles andere ergab sich wie von selbst: Internetkontakte, Treffen, die Reise nach Syrien. Von dort schickte Ibrahim ein SMS voller Schreibfehler: "Meine Habseligkeiten sind für meine Familie, außer dem Fernseher, der ist für meine Geliebte Salomé."

Ibrahim wurde von einem Bombensplitter getroffen, schied aus dem Kampfeinsatz aus und kehrte nach Cannes zurück. Bei seiner Verhaftung an der Côte d'Azur fand die Polizei einen USB-Stick mit einer 55-seitigen Anleitung zum Bau einer Bombe. Vor den Ermittlern erklärte ein Freund, Ibrahim habe es auf den Freimaurersitz in Cannes abgesehen gehabt: "Er wollte ins Gebäude hinein und dann einen um den anderen töten, bis die Polizei gekommen wäre und auch ihn getötet hätte."

Der Dritte im Bund ist Rached. Der 24-Jährige aus einem Wohnsilo am Rand der Glitzerstadt trug Armani-Jeans und Hilfiger-Polos, bevor er plötzlich eine radikale Konversion vollzog und sich nur noch schwarz kleidete: "Farben sind für Clowns", meinte er laut den Ermittlern. Der junge Franzose reiste 2012 nach Ägypten, um Arabisch zu lernen, ein Jahr später nach Syrien. Er schloss sich der Al-Nusra-Front an, bildete Rekruten aus Usbekistan und Pakistan aus. Im Juni erzählte er am Telefon: "Einige sind tot. Mir geht es seelisch nicht gut. Ich bin verletzt und jetzt fern von den Kämpfen."

Er fragte die Familie, ob das neue Antiterrorgesetz Frankreichs schon verabschiedet sei: "Drei Jahre für die, die in den Jihad gehen und wieder zurückkehren?" Seither hoffen seine Frau Melanie und seine Angehörigen, dass Rached zurückkehren will. Doch seit dem Anruf im Juli haben sie nichts mehr von ihm gehört. (Stefan Brändle aus Paris, derStandard.at, 9.10.2014)