Wien - Mit solch erbärmlichen Zeichnungen, beschieden ihm seine ersten Lehrer, würde es wohl nichts mit der Kunst. Doch der Tiermaler René Princeteau und der Modemaler Léon Bonnat irrten gewaltig. Mit seinem kühnen Strich, den mehr als 700 Ölgemälden, tausenden Zeichnungen, hunderten Aquarellen und Lithografien wurde Henri de Toulouse-Lautrec ein wichtiger Wegweiser in die Moderne, ein zeichnender Revoluzzer und hemmungsloser Grenzüberschreiter im Leben wie in der Kunst.
Schon als vierjähriger Knirps, so besagt die Legende, habe er zum Zeichnen Kohlestückchen aus dem Kamin gefischt, wenn ihm die Eltern zur Schlafenszeit die Malstifte weggenommen hatten. Später scherte er sich weder um die Unterscheidung zwischen angewandter und reiner Kunst, noch kümmerten ihn Standesdünkel.
Geboren am 24. November 1864 im südfranzösischen Albi, porträtierte der Spross einer reichen Adelsfamilie Landarbeiter und (Liebes-)Dienerinnen. Er soff und zeichnete sich durch die Pariser Nächte und Bordelle, erzählte ohne Schnickschnack von Einsamkeit, Armut und lesbischer Liebe, schenkte den Huren sein Herz, revolutionierte die Plakatkunst und erfand den Starkult, indem er den Schönen der Nacht Namen und Gesicht gab.
Der kleine Graf tat dies gleichermaßen anteilnehmend wie ironisch, voller Neugierde und ohne Vorurteil: ein exzentrischer Bohemien, der die Verkleidung liebte und - wie Fotos belegen - mit Pelzstola und Spitzenhütchen posierte; ein verkrüppelter Malerfürst in der Halb- und Unterwelt, dessen Beine nicht bis zum Boden reichten, wenn er auf einem Hocker sitzend malte. Toulouse-Lautrec litt an Pyknodystose, einer extrem seltenen, Kleinwüchsigkeit verursachenden Erbkrankheit, vermutlich begründet in der inzestuösen Ehe seiner Eltern. Henris Großmütter waren Schwestern gewesen.
Voyeur der Voyeure
Von seiner Familie erhielt er eine großzügige Apanage; zusätzlich erwies sich das Genie vom Montmartre auch noch als gewitztes Vermarktungstalent. Als eines seiner Plakate wegen allzu großer Freizügigkeit nicht affichiert werden durfte, klebte er es kurzerhand auf eine Kutsche. Tout Paris wusste innerhalb kürzester Zeit, dass im Moulin Rouge demnächst La Goulue ihre gelenkigen Beine schwingen würde. Auch die (männliche) Kundschaft der erotischen Vergnügungen bannte er, der Voyeur der Voyeure, aufs Plakat. Besonders delikat Der Fotograf Sescau: Es zeigt seinen Freund, den begnadeten Trinker Sescau mit herabhängenden Hosenträgern versteckt hinter der Kamera und eine geheimnisvolle Dame beim Verlassen des Fotostudios, ihr rotes Kleid über und über mit Fragezeichen übersät. Was ist passiert? Andeutungen gibt das Kameraobjektiv in Form eines drall ins Bild ragenden männlichen Glieds.
Kuratorin Evelyn Benesch hat mit spektakulären internationalen Leihgaben Toulouse-Lautrecs umfangreiches Werk sowohl chronologisch als auch, vor allem, Raum für Raum nach Werkgruppen sortiert: die weltberühmten Plakate; die betörenden, selten ausgestellten Probedrucke für seine Lithografien, etwa von Mademoiselle Marcelle Lender, eines der Brustbilder ist mit Aquarell koloriert; Zeichnungen in Öl; mit energischen Pinselstrichen (oft auf blankem, braunen Karton) festgehaltene Momentaufnahmen und Werkzyklen.
Ja, und dann sind da Toulouse-Lautrecs ganz frühe, oft impressionistisch und pointillistisch inspirierte Ölgemälde. Als Teenager, der nach zwei komplizierten Beinbrüchen ans Gipsbett gefesselt war, malte er, der nie mehr würde reiten können, Pferde und Reiter. Auch den bewunderten Vater auf dem Kutschbock eines Vierspänners malte er; und er porträtierte die Mutter: Wie stets hält sie die Augenlider gesenkt, ihr grünes Kleid mischt sich mit grünem Blättergeflirr.
Ein Meisterwerk aus dieser Frühzeit konnte Benesch aus Schweizer Privatbesitz erst nach langwierigen Verhandlungen und derart kurzfristig für Wien ausborgen, dass es im (vorzüglichen) Katalog nur als Einlegeblatt dokumentiert ist. Die Wäscherin von 1886, eines der ersten Modelle, das nicht aus aristokratischem Umfeld kam: "Ich male eine Frau, die wirklich goldenes Haar hat", schrieb er an seine Mutter.
Nicht immer schmeichelte der Chronist seiner Zeit den Damen. "Kleines Monster" nannte ihn Sängerin Yvette Guilbert teils kokett, teils gekränkt, als er sie mit "grausamem Stift" eher bissig karikierte denn liebevoll porträtierte: in "Gänsekotgrün", wie sich ein Kritiker empörte - hager, alt, mit spitzem Kinn und ebensolcher Nase.
Ein Ende mit Zirkusszenen
Die Ausstellung endet mit Lautrecs feinnervigen, subtil kolorierten Zirkusszenen. Er zeichnete sie, als er 1899 nach Schlaganfällen und Alkoholdelirien mehrere Monate in der Nervenheilanstalt verbrachte. Zwei Jahre danach starb der große kleine Künstler an Syphilis im mütterlichen Schloss Malromé.
Vielleicht wünschte man der musealen Eleganz im Kunstforum mitunter etwas mehr Wildheit, mehr von Toulouse-Lautrecs Grenzüberschreitungsfantasien und die eine oder andere zeitgenössische Referenz. Das Zeug zum Blockbuster hat die Schau allemal. (Andrea Schurian, DER STANDARD, 15.10.2014)