derStandard.at: Die Welt blickt derzeit auf die kurdische Stadt Kobanê in Nordsyrien. Was würde passieren, wenn sie der Terrorgruppe "Islamischer Staat" in die Hände fällt?

Aktan: Wenn Kobanê fällt, könnte es zu einer neuen Kampf- und Konfliktphase in der Türkei kommen. Die Kurden wollen eine klare Aussage und stellen die Türkei vor ein Ultimatum: entweder die IS oder wir. Wenn in Kobanê ein Massaker an Kurden stattfinden sollte, werden die Kurden in der Türkei nicht mehr länger zusehen, sie werden die Türkei zur Verantwortung ziehen. Wir sind gerade in einer Übergangsphase, es ist ein sehr kritischer Moment.

derStandard.at: Immer mehr kurdische Türken gehen auf die Straße und fordern die Regierung auf einzugreifen. Wie kann Ankara diesen Unmut besänftigen?

Aktan: Die Türkei hegt solche Absichten nicht. Im Gegenteil, durch schärfere Gesetze verfolgt sie eine repressive Politik. Sie versucht die kurdische Opposition mit Druck zu schwächen, das aber bereits seit 30 Jahren.

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Eine Demonstration, bei der die Beteiligten zur Befreiung Kobanês aufrufen, eskaliert im Südosten der Türkei. Mehr als 30 Menschen sind bei den Zusammenstößen in türkischen Städten in der vergangenen Woche ums Leben gekommen.
Foto: EPA/SERTAC KAYAR

derStandard.at: Würden die türkischen Kurden es begrüßen, wenn die Türkei auf internationaler Ebene an ihrer Strategie etwas ändert? Das türkische Parlament hat bereits Anfang Oktober einen Militäreinsatz abgesegnet – wird es nun Zeit, dass Ankara zum Beispiel seine Stützpunkte für die internationale Allianz öffnet?

Aktan: Das größte Problem in Kobanê ist eigentlich, dass die Kämpfer nicht genug Waffen haben. Die Türkei müsste einen Korridor nach Kobanê öffnen und mit Waffenlieferungen die Kurden stärken. So könnte die IS-Miliz vertrieben werden. Auch die internationale Nutzung der Stützpunkte ist sehr wichtig, aber NATO und EU setzen die Türkei zu wenig unter Druck, die Stützpunkte zu öffnen. Die Aufmerksamkeit der ganzen Welt ist zwar auf Kobanê gerichtet, aber man sieht nur zu. Auch die Türkei tut nichts anderes. Der Westen sollte nicht glauben, dass man die IS-Miliz durch höhere Mauern und verschärfte Grenzkontrollen aufhalten kann. Sie ist wie ein Virus.

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Rauch über der Stadt Kobanê am Dienstag.
Foto: AP Photo/Lefteris Pitarakis

derStandard.at: Sollte die Türkei im Kampf gegen die IS-Miliz Bodentruppen nach Syrien entsenden?

Aktan: Ja, das würde helfen. Die türkischen Soldaten stehen momentan an der Grenze und sehen nur zu. Die Kurden haben aber Bedenken, denn wenn die Türken in Kobanê einmarschieren, könnten sie zwar die IS-Miliz vertreiben, aber vielleicht dort bleiben.

derStandard.at: Momentan zögert die Türkei. Könnte ein IS-Angriff auf die türkischen Soldaten um das Grabmal von Suleyman Shah sie dazu bewegen, einzugreifen?

Aktan: Das könnte etwas ändern, aber die Türkei wartet, glaube ich, ab, bis der Konflikt die Grenze überschreitet. Sie will das Problem nicht selbst ins Land tragen.

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Ein türkischer Panzer an der syrisch-türkischen Grenze.
Foto: AP Photo/Lefteris Pitarakis

derStandard.at: Die türkische Luftwaffe hat laut "Hürriyet" zum ersten Mal seit zwei Jahren wieder Angriffe auf die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) geflogen, nachdem ein Militärstützpunkt tagelang beschossen worden war. Gibt es noch Hoffnung für den Friedensprozess mit der PKK? Wie könnte es weitergehen?

Aktan: Die Türkei muss ehrliche Friedensabsichten verfolgen, aber im Moment hängt alles von Kobanê ab. Die Ereignisse des letzten Monats haben den Friedensprozess wieder um Jahre zurückgeworfen.

derStandard.at: Präsident Erdogan hat in diesem Zusammenhang die PKK immer wieder mit der IS-Miliz verglichen – kann auf dieser Basis überhaupt verhandelt werden?

Aktan: Eine Kommunikation ist so unmöglich. Der Vizechef der türkischen Regierungspartei AKP, Yasin Aktay, hat zudem gesagt, in Kobanê spiele sich keine Tragödie ab, sondern lediglich ein Konflikt zwischen zwei Terrororganisationen. Solche Vergleiche lösen bei den Kurden natürlich Schock und Empörung aus, das war auch ein Grund, warum der Protest auf der Straße so heftig ausgefallen ist.

derStandard.at: Was fordern die Kurden in der Türkei in Hinblick auf Autonomie?

Aktan: Im Moment stellen sie auf politischer Ebene nicht die Forderung nach einem eigenen Staat. Die Grundforderung ist derzeit demokratische Autonomie.

derStandard.at: Konkret lehnen PKK-orientierte Bewegungen einen eigenen Staat ab – lässt sich hier ein gemeinsamer Nenner mit anderen kurdischen Bewegungen der Region finden?

Aktan: Zwischen der PKK und Masud Barzani (Präsident der kurdischen Regionalregierung im Nordirak, Anm.) gibt es große Probleme. Sie haben ganz verschiedene Ideologien und unterschiedliche Vorstellungen von "Kurdistan", das verhindert derzeit eine gemeinsame Strategie. Die Staaten selbst, auch die Türkei, müssen zunächst mit ihrer antikurdischen Politik aufhören. Selbst wenn ein Konsens zwischen den kurdischen Regionen gefunden wird, wäre der Konflikt nicht beendet, weil die Staaten diese Einheit dann immer wieder angreifen würden.

derStandard.at: Sind sie optimistisch, dass es bei der Konferenz, die PKK-orientierte kurdische Bewegungen in Erbil planen, Fortschritte für gemeinsame Strategie geben wird?

Aktan: Momentan ist niemand optimistisch. Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf, am Ende jedes Tunnels ist immer ein Funken Licht. Ich hebe mir den Pessimismus für schwierigere Zeiten auf.

derStandard.at: Was erwarten Sie von Europa und den USA mit Blick auf die Kurden in Syrien und in der Türkei?

Aktan: Dass sie nicht weiter die Zuschauerposition einnehmen, sowohl in Hinblick auf Kobanê als auch auf die Kurdenfrage. Was die Kurden im Zusammenhang mit der Region Kurdistan fordern, ist nicht etwas, was den Europäern oder Amerikanern fremd ist – es geht um Autonomie und Selbstverwaltung. Die Kurden würden damit etwas Europäisches in den Nahen Osten importieren. (Noura Maan, derStandard.at, 15.10.2014)