Der Blindenstock hilft Anfängern nur wenig bei der Orientierung.

Foto: Screenshot/Sinisa Puktalovic

Wien - Einen Fuß vor den anderen setzen. Nicht die Orientierung verlieren. Immer entlang der Bodenmarkierung. Krampfhaft umschließen die Finger den weißen Blindenstock, der von links nach rechts über den Boden gleitet. Wie viele Meter sind es noch bis zu den Fahrscheinentwertern am Eingang zur U-Bahn?

Drei Stunden dauert die Selbsterfahrung. Der Verein "Licht für die Welt" hat sie nach dem Motto "Blind für einen Tag" für Medienvertreter organisiert. Mit geschlossenen Augen, schwarzer Schlafmaske, Blindenstock und Begleitperson soll Alltägliches bewältigt werden.

Wenn die Welt in Dunkelheit gehüllt ist, beginnen Kopf und Körper automatisch nach anderen Anhaltspunkten zu suchen - nicht nur zur Orientierung, sondern um eine bessere Vorstellung von der Umgebung zu bekommen. Intuitiv werden die Kinder gezählt, deren Getrippel am Bahnsteig zu hören ist; eine bestimmte Kaugummisorte wird am Geruch erkannt, und zum ersten Mal drängt sich der Geräuschunterschied zwischen einer einbiegenden und einer geradeaus fahrenden Straßenbahn ins Bewusstsein.

318.000 sehbeeinträchtigte Menschen in Österreich

39 Millionen blinde Menschen gibt es weltweit laut "Licht für die Welt". 85 Prozent von ihnen leben in Entwicklungsländern: 21 Millionen haben ein Trachom, eine Augenerkrankung, die zur Erblindung führt, aber mit Antibiotika heilbar wäre.

Altersbedingte Makuladegeneration, grauer und grüner Star gehören zu den häufigsten Ursachen in Europa. In Österreich gibt es laut einer Erhebung des Sozialministeriums aus dem Jahr 2008 rund 318.000 sehbeeinträchtigte Menschen. Davon sind 3000 blind und etwa 100.000 hochgradig sehbehindert.

Die Angst vor dem Hindernis

Orientierung und Raumgefühl sind ohne Augenlicht schnell verloren. Straßen und Plätze, die man wie seine Westentasche zu kennen glaubte, werden zu weiten, haltlosen Flächen. Jeder Schritt verlangt Überwindung, denn er birgt aufs Neue das Risiko, gegen ein Hindernis zu stoßen.

Dieses Gefühl verschwinde niemals, sagt Smart Eze, ehrenamtlicher Mitarbeiter bei "Licht für die Welt" und seit 46 Jahren blind. Erleichterung bringe ein Blindenführhund. Mitmenschen würden zudem weniger Mitleid empfinden als gegenüber einer Person mit Blindenstock, sagt der gebürtige Nigerianer, der mit 23 Jahren nach einer Explosion plötzlich erblindete. Die Ausbildung eines Blindenführhundes dauert allerdings zwei Jahre und kostet rund 30.000 Euro.

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Der Blindenstock ist für Anfänger ebenfalls nur ein geringer Trost. Ob die Rillen des taktilen Leitsystems quer oder längs verlaufen, ob ein Schachbrettmuster eine Richtungsänderung signalisiert - um solche Feinheiten ertasten zu können, braucht es Übung.

Auch das Benutzen von Rolltreppen ist eine Herausforderung. Die rechte Hand liegt auf dem Handlauf, um die Bewegung zu spüren. Der linke Arm ist bei der Begleiterin eingehakt: "Jetzt", sagt sie - und der Fuß erwischt die Stufe im richtigen Moment.

Zum positiven Gefühl des Vertrauens in die Begleitperson mischen sich Hilfsbedürftigkeit und Kontrollverlust. Und ohne Augenlicht ist es auch zur Einsamkeit niemals weit. Sobald die Stimme einer Person verebbt, entstehen sofort Zweifel an ihrer Anwesenheit. Alltägliches, wie allein im Kaffeehaus zu sitzen, bekommt eine neue Dimension, wenn man die Geschäftigkeit seiner Umwelt nicht beobachten kann.

Nicht entfliehen können

Wie meistern Menschen, die dieser Erfahrung nicht nach drei Stunden entfliehen können, ihren Alltag? "Man eignet sich Techniken an. Man gewöhnt sich daran, dass alles länger dauert", sagt Smart Eze. Kleidung stelle seine Frau für ihn zusammen. Mit ihr gehe er auch einkaufen. Alleinstehende hätten von der Heimhilfe über taktile Orientierungshilfen bis zur Farberkennungsapp unterschiedlichste Hilfsmittel.

Es gebe aber noch viel Aufholbedarf, sagt der ehemalige Uno-Beauftragte für Sozialfragen. Waschmaschinen oder Backöfen zum Beispiel könnten bei der Herstellung mit simplen tastbaren Markierungen versehen werden. Das werde aber nicht bedacht. Dabei brauche ein blinder Mensch, neben Selbstmotivation, vor allem eines: Unterstützung durch andere. (Christa Minkin, DER STANDARD, 16.10.2014)