"Keiner unserer Studienteilnehmer hat Schulschwänzen als Vergnügen erlebt", weiß Erna Nairz-Wirth.

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Erst wird eine Stunde gefehlt, dann mehrere: "Sehr belastend ist das Lügengebäude, das diese Schüler aufbauen", so die Wissenschafterin.

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Standard: In Ihrer neuen Studie führen Sie qualitative Interviews mit Early School Leavers und Dropouts aus dem Schulsystem. Was sagen diese Begriffe über die Zuschreibung von Verantwortung für einen vorzeitigen Schulabbruch aus?

Nairz-Wirth: Beide Begriffe vermitteln das Bild, dass das Individuum eine größere Schuld an der Entwicklung trage als die Institution Schule. Das sind riskante Zuschreibungen. Die Gruppe der Betroffenen wird über solche Kategorisierungen stigmatisiert. Die Begriffe kommen aus der früheren Forschung zu diesem Themenfeld und werden zunehmend hinterfragt. Heute heißt es: Was kann die Institution Schule tun, was kann man in der Aus- und Weiterbildung für Lehrende, Schulleiter und andere Professionelle tun um Dropout zu reduzieren?

Standard: Kann der Begriff Fade-outs das Phänomen besser beschreiben?

Nairz-Wirth: Ein Schulabbruch passiert nicht von heute auf morgen. Die Distanzierungsprozesse beginnen oft schon sehr früh. Unsere Probandinnen und Probanden haben sich vielfach schon an Misserfolgserlebnisse im Kindergarten oder in der Volksschulzeit erinnert.

Standard: Welche Rolle spielt die Lehrer-Schüler-Beziehung in Zusammenhang mit vorzeitigem Schulabbruch?

Nairz-Wirth: Eine qualitative Lehrer-Schüler-Bindung ist ganz zentral. Klappt die Beziehung zu einer Lehrperson nicht so gut, kann das sehr kritisch sein für die Schullaufbahn. Auf der anderen Seite: Wenn positive Lehrer-Schüler-Beziehungen bestehen, kann das Drop-out-Risiko in jedem Fall verringert werden. Angst- und Abwehrgefühle sowie ein Mangel an Anerkennung durch Lehrer und Mitschüler spielen bei Kindern eine bedeutende Rolle.

Standard: Lässt sich Beziehungsfähigkeit lernen? Ist es nicht zwangsläufig so, dass es in einer Klasse mit mehr als 20 Schülern Beziehungskonstellationen gibt, die fruchtbarer sind als andere?

Nairz-Wirth: In der Professionalisierung kann sehr viel getan werden. Lehrpersonen und Schulleiterinnen müssen wertschätzend kommunizieren können. Allerdings: Sie fühlen sich oft alleingelassen, es gibt unzureichendes Unterstützungspersonal.

Standard: Wie agieren Lehrer, die in diesem Bereich nicht ausreichend sensibilisiert sind?

Nairz-Wirth: Wir haben derzeit eine Studie mit Lehrpersonen laufen. Hier zeigt sich, dass es ein breites Spektrum an Einstellungen und Haltungen gibt. Diejenigen, die sehr unterstützend sind und sicherlich Dropouts eher verhindern helfen, bis hin zu solchen, die vielleicht eine Entscheidung dahin gehend eher befördern.

Standard: Welche Rolle spielt Mobbing dabei?

Nairz-Wirth: Die meisten unserer Studienteilnehmer haben in der einen oder anderen Form Mobbingerfahrung gemacht. Mobbing ist ein großer Risikofaktor für Schuldistanzierung. Der Schüler geht dann nicht mehr gerne in die Klasse, hat Angst ...

Standard: ... und beginnt zu schwänzen?

Nairz-Wirth: Ja, durchaus. Keiner unserer Studienteilnehmer hat Schulschwänzen als Vergnügen erlebt. Meistens geht das einher mit Angst, in einem Fach zu versagen und eben auch Angst vor Mitschülern oder Lehrern. Dann fehlt der Schüler eine Stunde, dann mehrere - meist in einem Fach. Dann fehlt er tageweise oder länger, und der Abstand zu dem, was man als Leistung erbringen muss, wird recht groß und immer größer. Eines hat sich in unseren Interviews sehr klar gezeigt: Sehr belastend ist das Lügengebäude, das diese Schüler aufbauen. Wenn dann das Schwänzen einmal auffliegt, fühlen sie sich richtig entlastet.

Standard: Stichwort Mobbing: Braucht es mehr Präventionsarbeit?

Nairz-Wirth: Auf diesem Gebiet kann man gar nicht genug anbieten, damit hier eine Sensibilisierung entsteht. Ganz aktuell ist derzeit das Thema Cybermobbing. Trotzdem ist Mobbing nur einer von vielen Risikofaktoren, die Schulabbruch begünstigen können. Es kann etwa vorkommen, dass eine Leistungsschwäche nicht oder zu spät erkannt wird. Dann kommen vielleicht familiäre Probleme dazu - oder eine schlechte Lehrer-Schüler-Beziehung. In der Regel löst erst ein Bündel an Ursachen einen Schulabbruch aus, ganz selten eine Ursache allein.

Standard: Kann man sagen: Fast jeder Schulabbruch beginnt mit gehäuften Schulabsenzen?

Nairz-Wirth: Es ist auf jeden Fall einer der wichtigsten Indikatoren für einen späteren Schulabbruch. Bei Schulabsenzen müssen die Alarmglocken läuten! Darum steht auch in unseren Handlungsempfehlungen: Es ist ganz wichtig, Veränderungen im Schülerverhalten zu beobachten. Das soll aufgezeichnet werden. Die Diagnosekompetenz der Schulleitungen, Lehrpersonen und auch der Eltern sollte hier geschult werden. Man muss sich die Mühe machen, ganz genau zu schauen: Wann wird gefehlt? In welchem Fach? Sinkt die Leistung? Ist der Schüler zwar anwesend, aber geistig abwesend? Es braucht ein differenziertes Monitoring. Um richtig reagieren zu können, ist eine genaue Analyse der Ursachen notwendig, strafen allein hilft nicht.

Standard: Die Bildungsministerin hat zusätzlichen personellen Ressourcen erst vor wenigen Tagen im Standard-Interview eine Absage erteilt.

Nairz-Wirth: Vieles scheitert leider oft an ökonomischen Möglichkeiten. Aber wenn man bedenkt, wie teuer eine Schulabbrecherin oder ein Schulabbrecher der Gesellschaft kommen kann - nämlich zwischen einer und 1,8 Millionen Euro -, wäre es nachhaltiger, hier in die Prävention zu investieren, als nachher mit den Folgewirkungen wie Krankheit etc. konfrontiert zu sein. Punktuelle Betreuung ist nie so effektiv wie eine längerfristige. Maßnahmen wie Mentoring, Tutoring und psychologische Hilfe haben sich als effektiv erwiesen.

Standard: Stimmt die Zahl: plus/minus 10.000 Dropouts pro Jahr?

Nairz-Wirth: Die Zahl stammt aus einer IHS-Studie aus dem Jahr 2009, wird sich aber nicht wesentlich verändert haben. Wir haben derzeit 53.000 Early School Leavers in Österreich, das ist die Gruppe der 18- bis 24-Jährigen, die keinen Abschluss einer mindestens dreijährigen Schule der Sekundarstufe II erreicht haben.

Standard: Sie beschreiben für Österreich den neuen Typ des Übergangsverlierers. Warum ist das gerade hierzulande so zentral?

Nairz-Wirth: Jeder Wechsel, jeder Übergang ist ein Risiko. In Österreich haben wir im Vergleich zu anderen OECD-Ländern relativ viele Übergänge. Es gibt auch Übergänge wie Klassenwiederholungen und Abschulung, die tendenziell negativ von Eltern und Schülern erlebt werden. Mit jedem Übergang steht der Schüler vor großen Herausforderungen. Die Übergangsbegleitung sollte nicht nur zwei, drei Tage dauern, sondern abhängig von der In-tegration des Schülers gestaltet sein. (Karin Riss, DER STANDARD, 16.10.2014)