In seinem großartigen Werk König der Könige wollte der polnische Autor Ryszard Kapuscinski am kaiserlichen Hof Haile Selassies in Äthiopien den universellen Code der Machtpolitik zeigen, "wie dieses Medium der Politik Menschen, die in der Zone der Macht leben, von Grund auf verändert: ihre Mentalität, ihre Kultur, ihr Verhalten. Das geht bis zur Körpersprache, den Gang dieser Leute, ihre Sprache, ihre Gestik."

Auf den Fernsehbildern aus Mailand lieferte das Auftreten eines von der eigenen Machtfülle besessenen politischen Vollprofis wie Wladimir Putin ein eindrucksvolles Beispiel für eiskalte Machtpolitik auf dem internationalen Parkett. Der russische Präsident ließ, wie schon früher, auch diesmal die deutsche Kanzlerin zweimal stundenlang warten und wegen der Abnahme einer Militärparade in Belgrad zum 70. Jahrestag der Befreiung von Nazideutschland sogar das erste Plenum des Europa-Asien-Gipfels verpassen. Alle Informationen bestätigen, dass es weder bei den Vieraugengesprächen mit Merkel noch im größeren Kreis mit den Präsidenten Hollande und Poroschenko sowie den britischen und italienischen Regierungschefs nennenswerte Fortschritte in der Ukraine-Krise gab.

Die Fakten über die Verschlechterung der Wirtschaftslage in Russland sind unbestritten: Der Rubel fällt (ein Euro gleich 53 Rubel, im Vorjahr 42 Rubel), die Inflation steigt (auf ein Dreijahreshoch von acht Prozent), das Kapital flieht (der Abfluss heuer auf 120 Milliarden Dollar geschätzt). Zugleich ist der Ölpreis, von dem 70 Prozent der Exporte und die Hälfte des Staatsbudgets abhängen, seit Juni um 25 Prozent gesunken.

Trotzdem sagt der russische Präsident, sein Land lasse sich von Sanktionen nicht erpressen. Trotz des Waffenstillstands vom 5. September wird an allen drei Frontabschnitten in der Ostukraine immer wieder gekämpft; bei der Überwachung der russisch-ukrainischen Grenze und der Abhaltung von Wahlen unter ukrainischem Gesetz meldet man keine Fortschritte. Auch der von Putin vor einer Woche angekündigte Rückzug der russischen Truppen ist bisher nicht vollzogen worden.

Mit unveränderten Zustimmungsraten von 80 Prozent bei Umfragen in seinem Land bleibt Putin sowohl gegenüber der EU als auch gegen die USA in konfrontativer Haltung. "In 50 Jahren wird sich niemand daran erinnern, dass 2014 auf den Regalen russischer Läden Käse und Fleisch weniger wurden, aber alle werden sich daran erinnern, dass es Wladimir Putin war, der Russland die Krim zurückgebracht hat", hieß es in einem Bericht eines Kreml-nahen Instituts. Putin will Russland zu alter Größe führen.

Die Annexion der Krim und die Kontrolle über die Ostukraine sind unverrückbare Säulen der Putin-Doktrin. Daran ändert der unerschütterliche Glaube der westlichen Diplomatie an die Macht des Gespräches nichts. Den Preis für den großrussischen Nationalismus zahlt das russische Volk. Unklar bleibt, wie weit Putin noch gehen wird. Der langjährige, grüne Außenminister Deutschlands, Joschka Fischer, schreibt in seinem neuen Buch: "Putin reitet den nationalistischen Tiger. Wie kommt er von diesem Tiger herunter, ohne selbst gefressen zu werden?" (Paul Lendvai, DER STANDARD, 21.10.2014)