Maya Dhal (24) wurde mit dem Hermann-Gmeiner-Preis 2014 ausgezeichnet.

Foto: SOS Kinderdorf

Seit sie 15 Jahre alt ist, engagiert sich Maya Dhal für die Bildung von Kindern in und um die Großstadt Bhubaneswar mit 840.000 Einwohnern im Osten Indiens. In diesem Jahr wurde die mittlerweile 24-Jährige dafür mit dem Hermann-Gmeiner-Preis des SOS-Kinderdorfs ausgezeichnet. Noch immer geht Dhal regelmäßig in die Slums in der Nähe des Kinderdorfs, in dem sie aufgewachsen ist, und unterrichtet die Kinder der armen Familien. Hauptberuflich ist sie Lektorin an der Universität für Hotelmanagement in ihrer Heimatstadt. Ihr Ziel für die Zukunft ist es, noch mehr Kinder in den armen Gebieten zu erreichen und ihnen bei ihrer Schulbildung zu helfen: "Ich wünsche mir, dass jedes Leben, das ich berühre, blüht."

derStandard.at: Sie haben mit vier Monaten Ihre Eltern verloren und sind ins SOS-Kinderdorf Bhubaneswar gekommen. Wie haben Sie Ihre Kindheit erlebt?

Dhal: Das Kinderdorf ist der sicherste Platz, den ich mir vorstellen kann. Ich war das erste Kind meiner Kinderdorfmutter und wurde dementsprechend verwöhnt. Ich habe aber gleichzeitig gelernt, dass man für Belohnungen etwas leisten muss. Wollte ich etwas haben, musste ich es mir verdienen. So war das dann auch bei meiner Ausbildung: Nach dem St.-Joseph-Konvent ging ich an die Universität und wurde anschließend aufgrund meiner guten Noten für ein Stipendium für Hotelfachkunde ausgewählt.

derStandard.at: Wann war für Sie klar, dass Sie sich für die Bildung von Kindern engagieren möchten?

Dhal: Bereits mit 14 Jahren habe ich den bettelnden Kindern kein Geld gegeben, sondern mich zu ihnen gesetzt und sie gefragt, was sie brauchen. Von meinem Taschengeld habe ich ihnen dann zum Beispiel etwas zu essen gekauft.

Mein Engagement für die Bildung kam während der Sommerferien, als ich 15 Jahre alt war. Damals sah ich bei einem Spaziergang Kinder mit ihren Eltern auf einer Baustelle arbeiten. Die Kinder waren teilweise erst sechs, sieben Jahre alt und schleppten Ziegelsteine. Als ich nach Hause kam, fragte ich meine Mutter, ob das auch mein Schicksal gewesen wäre. Sie antwortete mit Ja, und ich beschloss zu handeln.

derStandard.at: Wie kann eine 15-Jährige diesen Kindern helfen?

Dhal: Ich organisierte alte Schulbücher aus der Nachbarschaft und ging zur Baustelle zurück. Dort machte ich den Eltern das Angebot, dass ich mich um die schulische Ausbildung der Kinder kümmern würde. Sie müssten nur sicherstellen, dass sie in der Früh in der Schule sind. Am Nachmittag könnten ihnen die Kinder dann wieder bei der Arbeit helfen. Ich erklärte ihnen auch, dass es den Kindern mit einer Ausbildung möglich ist, bessere Berufe zu ergreifen und in Zukunft mehr Geld zu verdienen. Das hat sie überzeugt.

derStandard.at: Wie sehr sind Waisenkinder in Indien Diskriminierung ausgesetzt?

Dhal: Ich selbst wurde nie diskriminiert, weil ich immer meine Kinderdorfmutter als Unterstützung hatte. Sie brachte mir das Essen in die Schule und ging zu Elternabenden. Das Stigma von Waisenkindern gibt es aber. Vor allem wenn es um die Heirat geht, sind der Familienname und der gesellschaftliche Stand der Familie wichtig. Auch die Kastenzugehörigkeit zählt noch immer. Ich bin aber der Meinung, dass es nicht auf den Familiennamen ankommt, vielmehr darauf, welche Person man selbst ist.

Ein Beitrag über das Engagement von Maya Dhal.
SOSChildrensVillages

derStandard.at: Wie wichtig war das Thema Familie bei Ihrer Heirat?

Dhal: Ich hatte eine arrangierte Ehe vor vier Monaten. Die Familie meines Mannes kam zu meiner Kinderdorfmutter und wollten eine unabhängige Frau für ihren Sohn. Das war schlussendlich ich. Vor dem Arrangement trafen sich unsere Familien aber regelmäßig, und meine Mutter untersuchte das familiäre Umfeld meines Mannes genau. Im Endeffekt war es aber eine Hochzeit wie jede andere.

derStandard.at: Mitgiftzahlungen sind in Indien verboten, aber noch immer Teil der Gesellschaft. In dem Zusammenhang waren vor wenigen Jahren Mädchenmorde ein großes Thema in den Medien. Wie sieht das jetzt aus?

Dhal: Bei meiner Hochzeit wurde keine Mitgift bezahlt. Aber es wurden viele Mädchen kurz nach der Geburt getötet, weil sich die Familien kein Mädchen leisten konnten. Bei einer Hochzeit muss die Familie der Braut die Kosten tragen – das sind rund 10.000 Euro. Außerdem muss eine Mitgift von etwa 2.000 Euro bezahlt werden. Wenn man nur Buben hat, verdient man Geld und muss keines ausgeben.

derStandard.at: Hat sich die Situation geändert?

Dhal: Ja, mittlerweile kommt die Gesellschaft darauf, dass es künftig zu wenige Frauen gibt, die die Männer heiraten können. Außerdem gibt es finanzielle Unterstützung von der Regierung, wenn man ein Mädchen zur Welt bringt oder wenn es 18 Jahre alt wird. Wenn ich vor neun Jahren in die Slums ging, dann gab es nur sehr wenige Mädchen. Heute habe ich das Gefühl, dass sich die Zahlen ausgleichen.

derStandard.at: Mit dem Hermann-Gmeiner-Preis ist auch ein Preisgeld von 5.000 Euro verbunden. Was werden Sie mit dem Geld tun?

Dhal: In einem Slum in der Nähe des Kinderdorfs gibt es keine eigene Schule, da müssen die Kinder fünf Kilometer weit gehen. Mittlerweile unterrichtet dort eine Frau vor Ort, und ich versuche den Kindern Fahrräder zu organisieren, damit sie zum Unterricht fahren können. Das Geld wird weiter in die Bildung investiert werden.

derStandard.at: Malala Yousafzai hat in diesem Jahr den Friedensnobelpreis für ihr Engagement für Mädchenbildung in Pakistan erhalten. Wie wichtig war dieses Signal für Ihre Arbeit?

Dhal: Für mich ist Bildung der Schlüssel für eine bessere Welt. Vorher wussten die Kinder aus den Slums nichts über die Welt, jetzt wissen sie ein bisschen. Sie erweitern ihren Horizont. Nur wenn jemand zumindest lesen und schreiben kann, versteht er, was um ihn herum passiert, und kann unabhängige Entscheidungen treffen. Der Friedensnobelpreis für Malala war ein starkes Signal. Ich würde sie gerne einmal treffen und vor allem über die Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Indien und Pakistan sprechen. (Bianca Blei, derStandard.at, 22.10.2014)