"Der Klimawandel ist nicht so global, wie er oft dargestellt wird", sagt Peter Schweitzer. Er hat in Alaska die Auswirkungen auf indigene Gemeinden in der Arktis untersucht.

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STANDARD: Bevor Sie nach Wien kamen, haben Sie in Russland und Alaska geforscht. Haben Sie eine Vorliebe für kalte Länder?

Schweitzer: Irgendwie schon. Mir wurde schon als Kind während des Adriaurlaubes eher schlecht in der Sonne. Für Russland begann ich mich unter anderem deswegen zu interessieren, weil ich die Sprache bereits in der Mittelschule gelernt hatte. Die sibirischen Völker waren für mich, wenn Sie so wollen, eine akademische Marktlücke. Bei uns hat sich in den 1980ern niemand dafür interessiert, was in der Sowjetunion passiert - und schon gar nicht dafür, wie es den kleinen ethnischen Gruppen Sibiriens geht.

STANDARD: Wie kamen Sie nach Alaska?

Schweitzer: Wie das Leben halt so spielt: Ich habe 1991 in Wien als Ethnologe mit einem Thema über Nordostsibirien promoviert. Da kann man sich ausrechnen, dass die Berufschancen bei Taxifahrer und Umgebung liegen. Jedenfalls hielt ich damals bei einem Kongress in Deutschland einen Vortrag, und durch Zufall war auch eine Professorin aus Fairbanks, Alaska, anwesend. Sie sprach mich an und sagte: "Sehr interessant, wir bräuchten so eine Expertise auch bei uns." Mein Aufenthalt in Alaska sollte ursprünglich ein Jahr dauern - es wurden 22 Jahre daraus.

STANDARD: Wie betrachten Sie Österreich nach all den Jahren im Ausland?

Schweitzer: Verallgemeinerungen sind immer schwierig, das gleitet schnell in Stereotype ab. Dennoch gibt es etwas historisch Gewachsenes, das man als "österreichisch" bezeichnen könnte: zum Beispiel das Fortwirken des Obrigkeitsstaates. Während in angelsächsischen Ländern das Recht des Individuums im Vordergrund steht, ist hier der Einzelne eher der Bittsteller. Allerdings erwartet man dann auch, dass der Staat mehr für einen tut. Und es fällt mir jetzt auch stärker auf, wie barock die Umgangsformen sind. Titel zählen hier sehr viel. Wenngleich ich zugeben muss, dass ich als Professor meist Adressat dieser "Titelei" bin. Ich könnte aber gut ohne sie leben.

STANDARD: Wie leben die Leute in Alaska?

Schweitzer: Die Alaskaner pochen zwar darauf, anders zu sein, doch aus europäischer Sicht ist das Leben dort sehr amerikanisch. Das gilt zumindest für die großen Städte. In den Dörfern sieht es anders aus. Auf dem Land kosten die Lebensmittel in den Geschäften das Doppelte bis Dreifache, weil alles eingeflogen werden muss. Außerdem haben nur etwa zehn Prozent der Bewohner, vor allem Frauen, ein reguläres Arbeitsverhältnis, die anderen leben von der Jagd, vom Fischfang, vom Kunsthandwerk. Oft ist es so, dass in einer Großfamilie nur einer - oder häufiger: nur eine - regulär arbeitet und das Geld mit den anderen teilt.

STANDARD: Ist Alaska das Skandinavien Amerikas, also liberaler als der Rest des Landes?

Schweitzer: Interessante Frage, denn hier leben in der Tat sehr viele Skandinavischstämmige. Wohlfahrtsstaat gibt es hier keinen, Liberalität wird großgeschrieben, allerdings im Sinne von "libertär": An erster Stelle stehen das Privateigentum sowie der Gedanke, dass sich der Staat möglichst nicht einmischen soll. Die Bevölkerung ist eine interessante Mischung von politisch linken und rechten Hippies, die sich meist bewusst von den Ballungsräumen der USA verabschiedet haben und nicht wollen, dass sie irgendjemand an ihrer Lebensweise hindert.

STANDARD: Mit welchen Gruppen haben Sie sich im Laufe Ihrer Forschungen im Feld der arktischen Sozialwissenschaft beschäftigt?

Schweitzer: Zunächst mit zwei indigenen Gruppen des Beringstraßen-Gebietes, den Tschuktschen und den sibirischen Eskimos, auch Jupik genannt. In den letzten zehn Jahren habe ich vor allem mit den Inupiat Alaskas gearbeitet, die zur Gruppe der Inuit gehören.

STANDARD: Darf man noch "Eskimos" sagen?

Schweitzer: Kommt darauf an, wo man ist. In Russland und Alaska sehr wohl, in Kanada ist der Begriff ein Schimpfwort. In Alaska wäre es - im Gegensatz zu Kanada - auch nicht sinnvoll, von Inuit zu sprechen, weil es dort noch eine zweite große eskimoische Sprach- bzw. Volksgruppe gibt, nämlich die Jupik. Im ethnopolitischen Bereich setzt sich der Begriff "Inuit" allerdings immer mehr durch.

STANDARD: Haben Sie die indigenen Sprachen erlernt?

Schweitzer: Nur oberflächlich, in Alaska und Nordostsibirien gibt es auch nur mehr wenige, die diese Sprachen sprechen. Allerdings spricht dort fast jeder Englisch bzw. Russisch, auf der anderen Seite der Beringstraße. Ich habe auch manchmal mit Übersetzern gearbeitet.

STANDARD: Stimmt es, dass die Inuit viel mehr Begriffe für Schnee haben als wir? Oder ist das eine Legende, wie mitunter behauptet wird?

Schweitzer: Das ist eine linguistische Streitfrage, deren Antwort davon abhängt, was ein "Begriff" ist. Aus meiner eigenen Forschung ist jedoch klar, dass die Inuit eine äußerst vielgliedrige Systematik für den Zustand von Meereseisflächen besitzen. Das ist auch notwendig, um auf dem Eis gefahrlos jagen zu können. Ob es sich dabei jeweils um eigenständige Wörter handelt oder um Varianten des gleichen Wortes, ist für meine Zwecke als Ethnologe nebensächlich.

STANDARD: Wie würden Sie die Mentalität der Indigenen beschreiben?

Schweitzer: Mentalität ist ein großes Wort. Auffallend ist zumindest, dass die meisten Inupiat und Jupik Menschen weniger Worte sind. Die Einsilbigkeit kann ein Nachteil sein - vor allem vor Gericht, wo wortreiche Erklärungen und Ausreden die Norm sind. Es gibt jedoch in Alaska auch Gruppen, die ganz anders sind. Bei den Tlingit im Süden des Bundesstaates sind z. B. lange und kunstvolle Reden Teil der Kultur.

STANDARD: Sie haben auch die Auswirkungen des Klimawandels in der Arktis untersucht. Wie stellt sich die Situation aus Ihrer Sicht dar?

Schweitzer: Der globale Klimawandel ist nicht so global, wie er oft dargestellt wird. Manche Gegenden sind viel stärker davon betroffen - die Arktis ist eine davon. In den letzten Jahren hat sich das Küsteneis im Herbst später gebildet, deswegen peitschen die Herbststürme das Meer mit ungebremster Kraft auf das Land zu, was wiederum zu Erosion führt. In einer Reihe von Jupik- und Inuit-Dörfern kommt es daher zu dramatischen Problemen, die langfristig in vielen Fällen nur durch Umsiedlung gelöst werden können. Auch die Jagd ist unter diesen Bedingungen gefährlicher geworden. Sozial interessant ist: Durch den Klimawandel besitzen die "Älteren" nicht mehr das richtige Wissen. Früher konnten sie das Wetter besser "lesen". Unter Bedingungen des Klimawandels funktioniert das immer schlechter, das untergräbt die Autorität der Älteren.

STANDARD: Einige Inuit-Gemeinden haben nun amerikanische Ölfirmen als Mitverursacher des Klimawandels verklagt - hat diese Aktion Aussicht auf Erfolg?

Schweitzer: Natürlich nicht. Das ist eine PR-Kampagne. Nehmen wir das Dorf Shishmaref, wo ich jahrelang gearbeitet habe: Es wurde in Medienberichten als das "Dorf, das ins Wasser fällt" und als "erstes Opfer des Klimawandels" dargestellt. Ja, es sind ein paar Häuser ins Wasser gefallen, und es stellt sich die Frage einer Umsiedlung. Aber die Bewohner werden wohl noch lange dort leben. Vertreter des Dorfes haben die L.A. Times, CNN und viele andere bewusst zu sich eingeladen. Die Medien sind dem gerne nachgekommen, denn der Klimawandel eignet sich eben gut für Übertreibung und Hysterie. Und die "Opfer" des Klimawandels verstehen ihre Rolle durchaus zu inszenieren. (Robert Czepel, DER STANDARD, 22.10.2014)