Anna Neistat bei Recherchen im "E-Team" in Syrien. Netflix-Reporter waren dabei, ab Freitag online.

Foto: Netflix

Trailer zu "E-Team".

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Wien - Am 15. August werden bei einem Angriff der syrischen Luftwaffe auf die Rebellenhochburg Azaz im Norden des Landes mehr als 20 Menschen getötet. Ein Kampfflugzeug feuert mehrere Raketen auf Gebäude in der Nähe des Gefängnisses von Azaz. Unter den Opfern sind sowohl Zivilisten als auch Aufständische der Freien Syrischen Armee (FSA), die dort einen Stützpunkt haben.

Von dem Angriff erfährt Anna Neistat nur wenige Stunden später, ganz in der Nähe von Azaz. Als Mitglied des E-Teams von Human Rights Watch besucht sie das Krisengebiet, um undercover mit Menschen zu sprechen, die Verbrechen zu dokumentieren und zu publizieren.

Die Chancen stehen gut, denn produziert hat den Film der Onlinevideodienst Netflix, und der ist zur Zeit gefragter denn je. Ab 24. Oktober ist "E-Team" auf dessen Homepage abrufbar. Im freien Handel wird die Doku ebenfalls Abnehmer finden.

Katy Chevigny und Ross Kaufmann begleiteten das Team: mit Peter Bouchkaert und Fred Abrahams in Libyen, mit Neistat und ihrem Ehemann Ole Solvang waren sie in Syrien.

Illegale Einreise

Die Geschichte beginnt vor zwei Jahren in Paris in der Wohnung von Neistat und Solvang. Er sitzt am Klavier, sie tadelt den Sohn, der schlecht französisch lernt. Alltag einer Durchschnittsfamilie. Kurze Zeit später sitzen die beiden im Auto an der türkisch-syrischen Grenze, wo es keinen offiziellen Weg zur Einreise gibt. Neistat richtet sich das Kopftuch zurecht, im nächsten Moment werden sie, Solvang und das Filmteam laufen, so schnell sie können. Die Grenzen sind zu, eine Einreise ist nur illegal möglich. "Das zu filmen war extrem schwierig", erzählt Neistat "Ich weiß, dass die Crew nervös war, ob es funktioniert."

Die Szene könnte der Serie "Homeland" entstammen. Ästhetisch orientieren sich Dokumentationen immer öfter an Fiction, nennen sich auch "Dokuthriller". Anna kennt Homeland: "Der Unterschied: Es gab kein Set, alles war echt. Katy und Ross hatten oft ,Glück'. Wenn etwas passierte, waren sie immer dabei."

Anna Neistat stammt ursprünglich aus Russland, absolvierte Harvard und arbeitete mehr als 18 Jahre für Human Right Watch. Sie spricht schnell und präzise: Der Film solle "die Menschen erinnern, welche Verbrechen in Syrien und in Libyen passieren". Und er soll zeigen, wie Menschenrechtsorganisationen arbeiten. Und dass das nächste Mal die Menschen wissen, wie die Berichte von Human Rights Watch und Amnesty International über Kriegsverbrechen an Zivilisten zustande kommen: Mit "ganz viel Recherche", sagt Neistat.

Volle kreative Kontrolle

Die Kamera um sich zu haben war anfangs ungewohnt, erzählt sie: "Ich war plötzlich sehr stark mit meinem Aussehen beschäftigt." Doch das änderte sich rasch: "Mit der Zeit wurde das Filmteam fast Teil der Einrichtung." Dabei gab es eine strikte Abmachung: "Netflix hatte die volle kreative Kontrolle. Das war für Human Rights Watch nicht ganz einfach zu akzeptieren. Umgekehrt verpflichtete sich Netflix, die Arbeit des Einsatzteams zu respektieren und die Kamera auszuschalten, wenn es notwendig war", erzählt Neistat. "Wir wurden Freunde." Mehr Filme über die Arbeit von Menschenrechtsorganisationen kann sie sich gut vorstellen und sind bei Netflix bereits in Planung. "Ich fände es fantastisch, wenn andere Themen zur Vorstellung kämen", sagt Neistat. Sie sähe gerne Dokus über die Arbeiten der Organisationen zu den Themen Gesundheit, Frauen, Kinder.

Den Job am offenen Feld hat Anna inzwischen aufgegeben, auch, weil sie Mutter wurde. Und weil "18 Jahre genug" waren. Als Senior Director bei Amnesty International organisiert sie die weltweite Forschungsarbeit. Doch das Reisen fehlt. Bei der Verabschiedung eines Teams habe sie sich "zurückhalten müssen, um nicht in den Flieger einzusteigen."

Genau ein Jahr und einen Monat alt ist das Baby jetzt. Dass die Filmcrew just bei der Geburt in Paris war, wo Anna und ihr Mann zuletzt lebten? Purer Zufall - und Glück. (Doris Priesching, DER STANDARD, 23.10.2014)