Während die Kurden der syrischen PYD und die Sunni-Islamisten der IS in Kobane ihre epische Schlacht führen, passieren seltsame Dinge in Suruç, dem Städtchen und dem gleichnamigen Distrikt auf der türkischen Seite der Grenze: Ein ehemaliger Bürgermeister und wichtiger kurdischer Stammesführer wird zusammen mit seinem Sohn im Auto erschossen; eine Korrespondentin des iranischen Senders Press TV, die vom türkischen Geheimdienst beschuldigt wurde, eine Spionin zu sein, stirbt bei einem mysteriösen Verkehrsunfall; ein Führer einer syrischen Rebellengruppe, die ebenfalls derzeit in Kobane gegen die IS kämpfen soll, wird auf türkischem Boden in der nicht weit von Suruç entfernten Stadt Urfa von mutmaßlichen IS-Mitgliedern angeschossen und zeitweise entführt – es gilt als Indiz dafür, dass sich die Islamisten der Terrormiliz frei in türkischen Städten bewegen können.
Die Vorfälle der vergangenen Tage sind nicht ganz klar und Gegenstand von allerhand Spekulationen, aber sie mögen Vorboten des anrollenden Krieges sein, in den die Türkei nun weiter hineingerät. Doch Suruç, Kobane und die umliegenden Regionen sehen keineswegs zum ersten Mal Krieg und Gewalt. 1915, vor bald hundert Jahren, sind hier die Armenier des Osmanischen Reichs durchgetrieben worden auf dem Weg in den Tod nach Deir ez-Zor in der syrischen Wüste. Suruç war von dem Regime der Jungtürken in Istanbul als eines von fünf Internierungsgebieten festgelegt worden (neben Aleppo, Katma, Müslimiye und Ras al-Ayn/Serekane, einer anderen, heute türkisch-syrischen Grenzstadt, in der Kurden und IS derzeit kämpfen).
Leichen vor der Stadt
Einige tausend armenische Familien, die den monatelangen Transport und Fußmarsch aus Sivas und Erzurum in Ostanatolien überlebt hatten – heute 600 bis 800 Straßenkilometer, je nach Route –, kamen im Sommer und Herbst 1915 in Suruç an. Leichen sollen vor der Stadt gelegen sein, die Schwerkranken sperrten die Behörden zum Sterben weg, die Überlebenden kamen in Zelte am Stadtrand von Suruç – am selben Ort wie heute, wo viele der kurdischen Flüchtlinge aus Kobane und den umliegenden Dörfern in Zeltlagern der türkischen Katastrophenschutzbehörde Afad untergebracht sind und nach den Standards des UNHCR.
Der Vertriebenenkonvoi aus Erzurum vor 99 Jahren soll in erheblich besserer Verfassung in der Kleinstadt vor der syrischen Wüste eingetroffen sein als jener von Sivas, schreibt der französische Historiker Raymond Kevorkian ("The Armenian Genocide. A Complete History", I. B. Tauris 2011): Diese armenischen Familien hatten noch Fuhrkarren und einiges Hab und Gut; manche konnten mit Wechselschreiben, die sie noch bei sich hatten, Bargeld erhalten, die Beamten in Suruç bestechen und sich den Umständen entsprechend erträglich einrichten. Ende 1915 war gleichwohl Schluss. Das Innenministerium in Istanbul drängte auf die Fortsetzung der Deportation. Am 1. Jänner 1916 wurde der Befehl zum Weitermarsch der Armenier in die Provinz Rakka gegeben – heute die Hochburg der IS. 1.851 Frauen, Männer, Kinder mussten am 9. Jänner, von den osmanischen Gendarmen bewacht, aus Suruç in die Wüste losziehen, berichtet Kevorkian.
Die Sammellager in Suruç und anderen Städten an der heutigen türkisch-syrischen Grenze waren eigentlich im Rahmen einer begrenzten Neuansiedlungspolitik für einen Teil der Armenier geplant, die das der Regime der Jungtürken aus anderen Teilen Anatoliens vertreiben ließ. Auch diese Ansiedlungspolitik in Wüstengebieten, argumentiert der in den USA lehrende türkische Historiker Taner Akçam ("The Young Turks' Crime against Humanity. The Armenian Genocide and Ethnic Cleansing in the Ottoman Empire", Princeton 2012), ist Teil des Völkermords an den Armeniern gewesen. Der Regierung des Komitees für Einheit und Fortschritt – sie wurde nach Kriegsende 1918 gestürzt – ging es zeitweise um eine "Zerstreuung" der überlebenden Armenier unter der muslimischen Bevölkerung im weit entfernten Syrien; fünf bis maximal zehn Prozent sollten die Armenier in den Dörfern und neuen Ansiedlungen ausmachen. "Ein solches Ergebnis konnte nur durch Auslöschung (von Menschenleben, Anm.) erreicht werden", schreibt Akçam.
Armenierlager in Kobane
Wenige Kilometer entfernt von Suruç oder Serudj, wie es auf Karten der französischen Mandatsverwaltung (1920–1946) genannt wird, entstand 1915 auch ein anderes Internierungslager: Arab Punar oder Arabounar, wie die Armenier es nannten – das heutige Kobane für die Kurden und Ayn al-Arab, wie es von den syrischen Behörden im Zuge einer Arabisierungspolitik später benannt wurde. 15.000 Deportierte, meist aus Sivas, trafen hier im September 1915 ein. Die meisten waren krank und entkräftet. 150 bis 170 Menschen starben jeden Tag, so zitiert Kevorkian einen Augenzeugen; an die 4.000 Tote sind es nach einigen Wochen. Einem Teil gelingt es, sich vorübergehend in Suruç zu verbergen.
Die Konya-Bagdad-Bahn führt hier entlang, 1903 noch im Osmanischen Reich begonnen und bis 1940 fertiggestellt; sie ist bis heute von Karkamiş/Garablus (unter Kontrolle der IS) bis Nusaybin/Qamishli (unter der Kontrolle der Kurden der PYD) auf türkischer Seite die Grenzlinie zu Syrien. Kobane war zunächst nur eine Bahnstation, heute ist es Mürşitpinar, der Grenzübergang nach Kobane, 18 Stationen nach Gaziantep. Arab Punar/Kobane wird 1920 noch eine Rolle spielen, als sich die türkischen Truppen in Urfa gegen die französische Mandatsmacht erheben. Die Franzosen gaben nach zwei Monaten Belagerung ihre Garnison auf, die Türken sicherten ihnen freies Geleit zu bis Arab Punar. Geglückt ist das nicht: Der französische Trupp geriet auf dem Weg in einen Hinterhalt angeblich der Kurden, die meisten der noch 300 Soldaten starben. (Markus Bernath, derStandard,at, 23.10.2014)