Der Hongkonger Menschenrechtsexperte Ming-yi Kou prangert im Gespräch mit derStandard.at Menschenrechtsverletzungen der Hongkonger Polizei an und sieht in den Verhandlungen zwischen Demonstranten und Regierung kaum Chancen auf große Veränderungen.

derStandard.at: Sie waren erst vor kurzem in Hongkong – wie ist die Stimmung unter den Protestierenden?

Kou: Ich war zu Beginn der Proteste vor Ort und habe große Enttäuschung in ihren Gesichtern gesehen. Sie wollen im Jahr 2017 demokratische Wahlen, darauf haben sie jahrzehntelang gewartet. Vor allem die Studierenden und Lehrenden an Universitäten spielen jetzt eine große Rolle, sie sind quasi das Gewissen der Gesellschaft Hongkongs.

derStandard.at: Wie viel Unterstützung kommt von der Bevölkerung Hongkongs?

Kou: Erst gestern wurde eine Umfrage der chinesischen Universität Hongkongs für Journalismus und Kommunikation veröffentlicht, in der zu sehen ist, dass die Unterstützung der Bevölkerung in letzter Zeit sogar zugenommen hat: von 31 auf fast 40 Prozent. Bei den unter 24-Jährigen liegt die Unterstützung derzeit sogar bei mehr als 60 Prozent. Der Prozentsatz jener, die die Occupy-Bewegung ablehnen, nahm auf 35,5 Prozent ab. Die Regierung versucht aber, die Gefühle jener zu manipulieren, die gegen die Bewegung sind. Beispielsweise ist man an kleine Unternehmer herangetreten und hat ihnen eingeredet, dass die Proteste schlecht für die Wirtschaft seien und die Touristen deshalb ausbleiben würden, was nicht stimmt. Die Occupy-Bewegung hat keine Gewalt provoziert, sie sitzen nur friedlich auf den Straßen.

derStandard.at: Wie besorgt sind Sie wegen Menschenrechtsverletzungen auf den Straßen Hongkongs?

Kou: Wir müssen das immer im größeren Kontext betrachten. Die Polizei hat keine gewaltsamen Auseinandersetzungen mit den Demonstranten angefangen, aber zum Teil unverhältnismäßig reagiert. Am 28. September hat sie massiv Tränengas eingesetzt. Vor einigen Tagen haben sieben Polizisten zudem einen Demonstranten verprügelt, was rechtlich gesehen unter Folter fällt – danach wurden sie aber zumindest versetzt beziehungsweise suspendiert.

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Ende September ging die Polizei mit Tränengas gegen die Demonstranten vor.
Foto: EPA/JEROME FAVRE

derStandard.at: In den vergangenen Tagen und Wochen wurde auch von Angriffen prochinesischer Schläger auf die Demonstranten berichtet. Könnte die Regierung dahinterstecken?

Kou: Wir wissen nicht, ob sie Geld von der Regierung dafür bekommen haben, aber es gibt viele Geldflüsse aus Peking nach Hongkong. Etwas davon könnte zu dem Zweck eingesetzt worden sein, die Demonstrationen zu beenden. Man kann aber nicht sagen, dass die Regierung oder die Polizei direkt mit diesen Banden kooperieren.

derStandard.at: Kann man aber von einer gewissen Form von Toleranz der Regierung und Polizei gegenüber diesen Attacken sprechen?

Kou: Ja, die Polizei hat sich zum Teil sehr passiv verhalten und nicht reagiert, wenn Demonstranten zum Beispiel gefordert haben, dass brutale Schläger verhaftet werden. Davon gibt es viele Handy-Videoaufzeichnungen, auf denen sie ihre eigentlichen Absichten nicht verstecken konnten.

derStandard.at: Einige Protestlager sind von der Polizei geräumt worden, die Demonstranten haben dennoch angekündigt, auf den Straßen zu bleiben. Ist das möglich, wenn immer mehr Menschen sich wieder ihrem täglichen Leben widmen und die Anzahl der Protestierenden abnimmt?

Kou: Die Proteste sind alles andere als vorbei. Viele haben sich mittlerweile zu "Teilzeit-Demonstranten" entwickelt und gehen tagsüber studieren oder arbeiten und abends auf die Straßen Hongkongs. Deshalb sieht man bis etwa 17 Uhr im Durchschnitt nur hundert Demonstranten, während abends wieder tausende protestieren. Vergangenen Freitag waren es Polizeiangaben zufolge 9.000 Menschen. Da die Demonstrationen aber nun bereits einige Zeit andauern, hofft die Regierung, die Proteste "auslaufen" lassen zu können, damit die Leidenschaft der Leute abnimmt.

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Auch am Mittwochabend versammelten sich wieder zahlreiche Demonstranten im Zentrum Hongkongs.
Foto: EPA/JEON HEON-KYUN

derStandard.at: Geht diese Strategie der Regierung auf?

Kou: Ich glaube nicht. Viele vor allem junge Menschen sind sehr engagiert und erwarten Ergebnisse. Auch wenn nicht mehr so viele Leute wie zu Beginn der Proteste sichtbar sind, können immer noch innerhalb kürzester Zeit zahlreiche Menschen erreicht werden. Wenn also etwas passiert, sind sie wegen der Mobilisierungskraft sozialer Medien schnell vor Ort. Sie wissen, dass es entscheidend ist, öffentlichen Raum zu verteidigen.

derStandard.at: Am Dienstag ging die erste Gesprächsrunde zwischen Regierung und Studentenführern ohne konkrete Ergebnisse zu Ende. Verwaltungschef Leung Chun Ying hatte zuvor noch erklärt, das Recht auf freie Wahlen gebe den Armen zu viel Macht. Glauben Sie, dass ein konstruktiver Dialog zwischen beiden Seiten überhaupt stattfinden kann?

Kou: Eine Studentenführerin sagte nach den ersten Gesprächen, dass es vielleicht keine zweite Runde geben wird, sollte die Regierung nicht mehr Ernsthaftigkeit in den Verhandlungen zeigen. Das Einzige, was von Regierungsseite bisher kam, war die Ankündigung eines Berichts über die Ereignisse seit August.

derStandard.at: Welcher Kompromiss könnte eingegangen werden?

Kou: Ich sehe keinen großen Spielraum für Kompromisse. Polizeichef Andy Tsang Wai-hung könnte als Zugeständnis an die Demonstranten abgesetzt werden. In weniger als einem Jahr wäre er aber ohnehin in Pension gegangen.

Es wird nicht möglich sein, den Beschluss des Pekinger Volkskongresses zu den Wahlen 2017 neu aufzurollen, da keine zuvor getroffene Parteientscheidung revidiert werden kann. An der Tatsache, dass ein Komitee die Kandidaten für die Wahl nominiert, wird also nicht gerüttelt werden. Was aber passieren könnte, ist, dass über die Aufstellung des Nominierungskomitees verhandelt wird – also darüber, wer die 1.200 Menschen im Komitee sind und ob sie demokratisch gewählt werden können.

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Aktivisten haben am Donnerstag an einer Klippe ("Löwenhügel") über der Stadt ein Plakat angebracht: "Ich will echtes allgemeines Wahlrecht"
Foto: REUTERS/Tyrone Siu
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derStandard.at: In welche Richtung wird sich Hongkong entwickeln?

Kou: Mit Blick auf die Zukunft könnte das die letzte Chance für die junge Generation Hongkongs sein. Der Hintergrund dafür ist die Quotenregelung der Zentralregierung: Jeden Tag dürfen 150 Menschen aus China nach Hongkong auswandern. Ein Zehntel der Migranten Hongkongs sind aus China. Wir können nicht sagen, dass sie alle politisch pro Peking eingestellt sind, aber Statistiken ordnen einen Großteil von ihnen der chinesischen Zentralregierung gegenüber positiv eingestellt zu. Das könnte sich natürlich in den nächsten Jahren ändern, aber ich befürchte langfristig eine Verschiebung des politischen Spektrums in Richtung pro Peking.

derStandard.at: Mit der jungen Generation, die sich verstärkt in Richtung Westen orientiert und auf soziale Medien baut, und den Einwanderern aus China – ist da ein Konflikt nicht programmiert?

Kou: Viele Leute sind zuversichtlich, dass die zahlreichen Möglichkeiten und Freiheiten, die Chinesen in Hongkong wahrnehmen können, sie vielleicht dazu bewegen können, die Restriktionen in China nicht zu akzeptieren. Die Atmosphäre Hongkongs könnte also dazu führen, dass sich die Einstellung der Leute ändert. (Noura Maan, derStandard.at, 23.10.2014)