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In Mariupol, das nahe an der Front liegt, stimmten auch viele Soldaten ab. Eine Pflicht dazu gab es aber nicht, hieß es beim Militär.

Foto: EPA/PHOTOMIG

Um acht Uhr, pünktlich auf die Minute, öffnet das Wahllokal 250 in der Mariupoler Gesamtschule Nummer 65 seine Pforten. Vor dem Gebäude stehen schon ein paar Mütterchen im Frost. Krise oder nicht: Pensionisten in der Ex-Sowjetunion sind disziplinierte Wähler. Auch Walentin steht dabei. "Ich muss nachher noch zum Dienst" sagt der über 60-Jährige, der sich als Wachmann ein Zubrot verdient. Für wen er stimmen soll, weiß er aber noch nicht. Bei den Parteien hat sich für die "Volksfront" (Narodni Front) von Premier Arseni Jazenjuk entschieden, "aber von den Direktkandidaten" - die immerhin die Hälfte der 450 Rada-Mandate bekommen - "kenne ich niemanden. Zu einer Wählerversammlung wurde ich nicht eingeladen", klagt er. Am Ende erkennt Walentin Ex-Gouverneur Sergej Taruta auf einem Plakat und entscheidet sich für ihn - "aus Mitleid", wie er sagt.

Im Wahllokal ist es ruhig. Von den militärischen Spannungen ist nichts zu spüren. Obwohl Mariupol als "Frontstadt" gilt und die Grenzposten der separatistischen "Donezker Volksrepublik" (DVR) nur einige Kilometer nördlich und östlich der Hafenstadt am Asowschen Meer liegen, sind die Sicherheitsvorkehrungen gering. Lediglich ein Milizionär verrichtet im Wahllokal entspannt seinen Dienst.

Die Wahlkommission hingegen ist vollzählig im Einsatz. Probleme bei der Aufstellung habe es nicht gegeben, versichert der Vorsitzende Michail Rubel. Und es kommt gleich Arbeit auf sie zu: "Ich habe hier mein Leben lang abgestimmt, warum bin ich nicht auf der Wahlliste", beschwert sich eine alte Frau. Der Skandal ist glücklicherweise schnell behoben. Die Frau ist einem anderen Wahllokal registriert, das im Anbau der Schule untergebracht ist.

Soldaten zur Wahl gefahren

Während in den von den Separatisten gehaltenen Gebieten kein einziges Wahllokal geöffnet ist, läuft die Abstimmung in Mariupol auf Hochtouren und ohne größere Störungen. Von angeblichen Artilleriegefechten vor der Stadt ist in Mariupol nichts zu spüren. Auch in der Schule Nummer 25 wird gewählt. Soldaten werden in Bussen angekarrt, aber nicht alle gehen sofort ins Wahllokal. Einige nutzen die Chance, um sich im nächsten Laden mit Bier oder Süßigkeiten zu versorgen. Landesweit hätten über 10.000 Soldaten an der Wahl teilgenommen, erklärt Präsident Petro Poroschenko. Ein Gutteil davon stimmt in Mariupol ab. Allerdings werde nur, wer wolle, ins Wahllokal gefahren, versichert ein Presseoffizier.

Natalja Timoftschuk, Krankenschwester in einem mobilen Feldlazarett wollte: "Ich empfinde es als meine Pflicht, ich habe immer gewählt", sagt sie. Gerade jetzt sei es besonders wichtig teilzunehmen, fügt sie hinzu.

"80 Prozent für die Volksrepublik"

Nicht alle denken so. In Mariupol ist die patriotische Stimmung keineswegs überschwenglich. Ukraine-Flaggen, wie sie noch in Saporoschje aus jedem Hochhaus hängen, sind hier nicht zu sehen. Die meisten sehen den Wahlen eher gleichgültig entgegen. "Wenn die Rebellen kommen würden, wären 80 Prozent für die DVR", erklärt Taxifahrer Alexej. Viele Kämpfer der Bataillone Asow und Schachtjor hätten sich herablassend gegenüber der Bevölkerung benommen, Geld abkassiert, Autos konfisziert und geplündert, begründet er das Misstrauen.

Zudem fühle er sich wie viele russischsprachige Bewohner der Region benachteiligt. Alle Formulare müssten nun in Ukrainisch ausgefüllt werden, der Schulstoff werde auf Ukrainisch vermittelt, sodass er seinen Kindern bei den Hausaufgaben nicht helfen könne und selbst Filme könne er nicht mehr in seiner Muttersprache sehen, klagt er. "Ich werde nicht geschlagen, wenn ich russisch rede, aber diskrimiert werde ich schon", sagt er. Darum seien viele für die Rebellen.

Schießen sinnlos

Im Schachklub von Mariupol ist man mit dieser Feststellung nicht einverstanden. Hier wird oft gestritten, zumeist laustark und erregt; sei es um einen falsch ausgeführten Zug, oder eine falsch gestellte Uhr beim Blitzschach. Doch in dieser Frage bleibt Wiktor Petrowitsch völlig gelassen: "Diese separatisischen Mätzchen sind Quatsch. Wir müssen sehen, dass wir hier in der Ukraine etwas auf die Beine gestellt bekommen", sagt der Pensionist. Das wichtigste sei es, die Korruption zu bekämpfen. Aufeinander zu schießen und das Land entzwei zu reißen, sei hingegen völlig sinnlos. Er jedenfalls habe gewählt, sagt er.

Viele der Wähler stimmen für die auf den Ausgleich mit der Ostukraine setzenden "Oppositionsblock", der der Partei der Regionen des abgesetzten Präsidenten Wiktor Janukowitsch nahesteht. Die Gruppe fährt in der Stadt laut Exit Polls eines seiner besten Ergebnisse im Land ein. "Nur wer wählt, kann über sein Schicksal mitbestimmen", sagt Petrowitsch. Dann konzentriert er sich auf den nächsten Zug. Der ist ihm wichtiger als alle Wahlen. (André Ballin aus Mariupol, DER STANDARD, 27.10.2014)