STANDARD: Wann haben Sie das letzte Mal Stadt genossen?
Ash Amin: Heute in der Früh. Ich war spazieren im Park.
STANDARD: Was ist Stadt für Sie?
Amin: Ich nenne Ihnen ein Beispiel. Ich lebe und unterrichte in Cambridge. Mitten auf dem Cambridge Square gibt es einen Typen, der den ganzen Tag in einer öffentlichen Mülltonne sitzt und Gitarre spielt. Noch nie hat sich irgendwer darüber mokiert. Die Boheme findet ihn cool, die Bourgeoisie duldet ihn. Das ist für mich Stadt.
STANDARD: Gibt es denn einen Unterschied zwischen der Stadt der Bourgeoisie und der Stadt der Boheme?
Amin: Natürlich neigt man dazu, zu glauben, dass die Bohemian City mehr öffentliches Leben birgt als die Ville bourgeoise. Der Verstand sagt uns, dass Berlin öffentlicher, lebendiger, vielfältiger ist als etwa Paris, dass das New Yorker West Village eine höhere Lebensqualität bietet als die sehr traditionelle, konservative Upper East Side. Und ja, das stimmt auch. Doch Fakt ist auch, dass die Stadt der Boheme eine sehr egoistische, eine sehr selbstsichere sein kann.
STANDARD: Inwiefern?
Amin: In der Stadt der Bohemiens werden öffentliche Freiräume von Künstlern in Beschlag genommen, da wird Tag und Nacht musiziert, da wird gemalt und an die Wand gesprüht. Die Stadt der Bohemiens ist schrill und laut - und bisweilen sehr anstrengend. Wem das nicht gefällt, der ist weg vom Fenster, der ist Außenseiter, der wird niemals in die Gemeinschaft aufgenommen. Das ist sehr brutal.
STANDARD: Ist es nicht umgekehrt genauso? Trifft das nicht auf jede geschlossene Gemeinschaft beziehungsweise Gesellschaft zu?
Amin: Nein. Die internationale Stadtforschung hat gezeigt, dass bourgeoise Gesellschaften weniger anspruchsvoll, weniger ausschließend sind als die sogenannten Bohemiens, wenngleich die Lebensmodelle des Bürgertums wie etwa Güterbesitz, Grundstückseigentum, Reichtum und Einbettung in wirtschaftliche Strukturen das Gegenteil vermuten lassen.
STANDARD: In welcher Gesellschaft fühlen sie sich denn persönlich wohler?
Amin: Weder noch. Die Stadt, in der ich mich wohlfühle, ist eine durchmischte, in der eine pluralistische Gesellschaft zu Hause ist. Ich bin ein Freund eines gewissen Chaos, das jedem und niemandem zugleich gehört. Ich bin ein Freund gewisser Reibungen und Auseinandersetzungen. Das ist es, was Qualität für mich ausmacht.
STANDARD: Gibt es konkrete Beispiele für Orte, an denen das gegeben ist?
Amin: Ich denke da an Neapel, Mumbai, Lagos in Nigeria, Bamako in Mali, an die Brick Lane in East London, an Suks und Basare im arabischen Raum.
STANDARD: Also Megastrukturen mit einem Hang zu Chaos und Überbevölkerung?
Amin: Ja. Das kann man wohl sagen. Es sind dies Städte, die eine gewisse Balance zwischen Legalität und Illegalität haben, zwischen offiziellen Wohnquartieren und informellen Siedlungen, die niemals bewilligt wurden, zwischen privatem Leben und öffentlichem Durcheinander. In der Regel handelt es sich dabei um Großstädte in Schwellen- und Entwicklungsländern beziehungsweise in Regionen, die wirtschaftlich ein bisschen zu kämpfen haben. Das sind die Orte, an denen ich mich wohlfühle.
STANDARD: Das überrascht mich zu hören. Die meisten Stadtforscher preisen immer nur die gewachsene europäische Stadt als Lebensparadies.
Amin: Ach, Europa! Die historischen Städte in Europa sind ein Traum, kein Zweifel. Das sind Städte, denen niemals ein größeres Unglück widerfahren ist, wenn ich mal von den Folgen des Zweiten Weltkriegs absehe. Diese Städte wie Wien, Rom, Paris, Amsterdam, Kopenhagen oder Stockholm bieten eine Lebensqualität, von der man andernorts nur träumen kann.
STANDARD: Aber?
Amin: Aber diese Städte sind in ihrer Entwicklung mehr oder weniger abgeschlossen. Diese Städte sind in gewisser Hinsicht perfekt. Da ist nichts Größeres mehr zu erwarten.
STANDARD: Wie meinen Sie das?
Amin: Schauen Sie sich im Gegenzug nur einmal Istanbul, Tel Aviv, Athen, Kairo oder Lagos an! Das sind Orte, die von politischer Unruhe, die von gewissen Naturgewalten und Naturdrohungen, die von vielen infrastrukturellen Schwierigkeiten und planerischen Herausforderungen geprägt sind. Da ist noch viel zu tun. Da haben wir in den kommenden Jahrzehnten eine unglaubliche Dynamik zu erwarten!
STANDARD: Sie polarisieren, indem Sie die entwickelte Stadt als langweilig und die unterentwickelte Stadt, die mit unendlichen Problemen zu kämpfen hat, als dynamisch bezeichnen. Ist das nicht romantisierend?
Amin: Nein. Die entwickelte Stadt bietet Zugang zu Wasser, Strom, Gas, Arbeitsplätzen, öffentlichem Verkehr, öffentlichen Einrichtungen und medizinischer Versorgung. Das ist perfekt, da gibt es nichts zu kritisieren. Doch weil es nichts zu kritisieren gibt, gibt es auch nichts, wogegen man aufbegehren kann. Die Menschen werden bequem. Bequemlichkeit, Komfort und Sicherheit - das ist gut für das Individuum, aber das ist der Tod von öffentlichem Leben. Denn öffentliches Leben - das beweist ein Blick auf die Megastädte dieser Welt - findet dort statt, wo es noch einen Tick Unbequemlichkeit und Unperfektheit gibt, wo man vielleicht noch gezwungen ist, die Privatheit des eigenen Wohnzimmers zu verlassen, um Zufriedenheit und sozialen Austausch zu erleben.
STANDARD: Ist das nicht paradox?
Amin: Doch, und wie! Und so richtig paradox wird die ganze Sache erst dadurch, dass wir uns auch in den entwickelten, hyperregulierten Städten in der westlichen Welt das Leben und die Miete nicht mehr leisten können. Alles wird immer teurer und immer schwerer zugänglich, und in der Zwischenzeit gibt es in den westlichen Global Cities mehr Obdachlose und Bettler als in so manch asiatischer Megacity. Ich bezeichne dieses Phänomen auch als die "Verdrittweltung" des zivilisierten Westens. Eine Katastrophe!
STANDARD: Wie ist dieser Prozess aufzuhalten?
Amin: Durch Protest. Occupy Wall Street war ein Anfang. Andere Manifestationen sind Besetzungen, Sandstrände mitten in der Stadt, Besetzungen von Straßenraum und so weiter. Ein Event allein kann nie Veränderung bewirken. Es ist die Summe des Protestes, die die Politiker und Behörden zum Umdenken bewegt.
STANDARD: Sie haben den Begriff des "Animated Space" begründet. Liegt die Animation in den neuen Technologien begründet?
Amin: Nicht nur. Unter Animation verstehe ich vor allem das Phänomen, dass wir den öffentlichen Freiraum wie eine dritte Haut, wie einen dreidimensionalen Mantel um uns herumtragen. Der Raum, den wir in Anspruch nehmen, wird immer größer und größer. Und er ist längst nicht mehr ein unbeschriebenes Blatt, längst nicht mehr nur Luft, sondern voller Informationen über uns und unseren Lebensstil. Diese Charakterisierung des Raumes bezeichne ich als Animation. Ist das irgendwie verständlich?
STANDARD: Vielleicht wird es anhand eines Beispiels einfacher? Wie sieht denn Ihr persönlicher Raummantel aus?
Amin: Ich hasse Shopping. Sie werden mich niemals durch eine Fußgängerzone flanierend vorfinden - und schon gar nicht in einem Shoppingcenter! Ich habe in meinem täglichen Leben so viel Stadt um mich herum, dass auf meinem persönlichen Raummantel die Begriffe Park, Wald und Bibliothek ganz groß zu lesen sind. Mein liebster Mantel jedoch heißt Neapel. Am liebsten sitze ich draußen in irgendeinem Café und schaue stundenlang irgendwelchen Menschen zu. Wenn Sie so wollen: Meine persönliche Animation, die ich in den öffentlichen Raum mitbringe, lautet Zerstreuung, Kontemplation, Ruhe. Dann bin ich einfach nur Leser, Voyeur, Beobachter.
STANDARD: Eine Prognose für die Zukunft?
Amin: In Zukunft wird die Hälfte der gesamten globalen Produktion - ganz gleich, ob wir hier von Landwirtschaft, Industrie oder Dienstleistung sprechen - in den 600 größten Städten der Welt abgedeckt werden. Das heißt, dass diese Städte ziemlich effiziente Maschinen werden sein müssen. Wenn wir unseren Bedarf an öffentlichem, kulturellem Freiraum nicht schleunigst einfordern, dann wird dieser Raum à la longue verlorengehen. Das darf nicht passieren.
(Interview: Wojciech Czaja, DER STANDARD, 29.10.2014)