Wien - Ein Gericht hat erstmals entschieden, dass ein Kind von getrennt lebenden Eltern in zwei Haushalten gleichteilig aufwachsen soll. Das Modell der "Doppelresidenz" ist eigentlich im Gesetz nicht vorgesehen. Das Kindeswohl sei aber der wichtigste Aspekt, weshalb in diesem Fall die Doppelresidenz für eine Probezeit gestattet wurde, erklärte die Sprecherin des Wiener Landesgerichts das Urteil im Ö1-"Morgenjournal" am Donnerstag.

In dem Prozess ging es um eine Familie, bei der Vater und Mutter seit zehn Jahren getrennt leben. Sie hatten sich darauf geeinigt, ihr Kind jeweils zur Hälfte zu betreuen. Da die Eltern nie verheiratet waren, hatte der Vater kein Obsorgerecht, weshalb er die gemeinsame Obsorge beantragte. Die Mutter war dagegen, da es Konflikte gegeben und der Vater sich nicht an Abmachungen gehalten habe.

Das Landesgericht hat nun die erstinstanzliche Entscheidung eines Bezirksgerichts und damit beide Wohnorte bestätigt. "Das Kindeswohl ist das allerwichtigste Kriterium", sagte die Sprecherin des Landesgerichts: "Die Gerichte sind davon ausgegangen, dass die seit Jahren gelebte Realität im Sinne des Kindes ist", dementsprechend sollte es weiterhin bei Vater und Mutter gleichermaßen wohnen. Wäre nur ein Wohnort festgelegt worden, hätte das zu einem erhöhten Streit- und Konfliktpotenzial zwischen den Elternteilen führen können.

Urteil als Meilenstein

Anton Pototschnig von der Plattform Doppelresidenz bezeichnete das Urteil in einer Aussendung als Meilenstein: "Österreich macht mit dieser Entscheidung einen wichtigen Schritt hin in Richtung europäischer Normalität. In den meisten Ländern ist die Doppelresidenz nicht mehr ausgeschlossen beziehungsweise fixer gesetzlicher Bestandteil, oder, wie in Belgien, sogar das bevorzugte Modell", so Pototschnig.

Die Doppelresidenz wurde im Gesetz zur gemeinsamen Obsorge nicht festgelegt beziehungsweise aus dem Gesetzesentwurf herausgenommen, weil die Regierungsparteien dagegen waren. Jedes Kind sollte einen hauptsächlichen Wohnsitz und damit Klarheit haben, lautete die Begründung.

Neos-Familiensprecherin Beate Meinl-Reisinger forderte nun, den Richterspruch als Anlass für eine entsprechende Gesetzesänderung zu nehmen. Frauenministerin Gabriele Heinisch-Hosek (SPÖ) sieht dafür laut Ö1 keine Notwendigkeit. SPÖ-Justizsprecher Hannes Jarolim begrüßt das Gerichtsurteil - eine Novellierung des Gesetzes hält aber auch er nicht für nötig. (red, derStandard.at, 30.10.2014)