Als Bryan R. Myers in den 80er-Jahren in Bochum studierte, reiste er so oft wie möglich nach Ostberlin. Mittlerweile lehrt der Amerikaner internationale Beziehungen in Südkoreas zweitgrößter Stadt Busan, schreibt regelmäßig Kolumnen für die "New York Times" und gilt als profunder Kenner der Koreanischen Halbinsel. Sein letzter Nordkorea-Besuch liegt rund drei Jahre zurück. In einem aktuellen Interview hat der 51-Jährige nun seine Eindrücke verglichen: "Man ist erstaunt, wie wenige Repressalien man sieht. Für einen Großteil der Bevölkerung ist die Atmosphäre viel freier", sagte er dem kanadischen Radiosender CBC – und meint nicht etwa die DDR, sondern Nordkorea.
Seit fast 70 Jahren hält sich das Kim-Regime bereits an der Macht. Größere Aufstände, Unruhen oder Revolutionsbewegungen sind ausgeblieben. Verständlich, weil die Bevölkerung unter einem der restriktivsten Systeme der Welt leide, werden die meisten wohl argumentieren. Myers sieht darin jedoch nur die halbe Wahrheit. Im Gegensatz zur DDR könne sich Nordkorea einen lückenlosen Überwachungsapparat à la Orwell gar nicht leisten, außerdem verfüge es nicht über die notwendige Technologie dafür. Seine Schlussfolgerung ist eine andere: Offensichtlich steht ein Großteil der Bevölkerung hinter dem System.
Eine unvorstellbare These: Wie kann ein Volk ein System unterstützen, das Andersdenkende wegsperrt und foltert? Ein Regime, das seine Bevölkerung kaum ausreichend ernähren kann, aber Unmengen für seinen Militärapparat verpulvert?
Nordkorea verstehen zu wollen heißt auch: die Perspektive wechseln.
Wir erwarten uns vom Staat ein funktionierendes Gesundheitssystem, sauberes Trinkwasser, individuelle Freiheit. Doch natürlich war dem nicht immer so. Noch in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts reichte es, wenn der Staat Schutz vor ausländischen Kräften bot und ein gewisses nationales Zugehörigkeitsgefühl vermittelte. Bryan R. Myers vergleicht Nordkorea gerne mit Preußen während des 18. Jahrhunderts: Es hatte eine mächtige Armee und wurde von der Welt respektiert. Auch wenn weite Teile der Bevölkerung am Hungertuch nagten, hinderte es sie nicht daran, ihren Staat als erfolgreich wahrzunehmen.
Nordkorea-Sympathisanten unter Rechtsextremen
Das bekanntestes Buch des Nordkorea-Forschers heißt "The Cleanest Race", die reinste Rasse. Wie der Titel bereits andeutet, räumt es mit einer noch immer gängigen Behauptung auf, nämlich dass es sich bei Nordkorea um einen gescheiterten kommunistischen Staat handle. Alles falsch, sagt Myers, Das Kim-Regime weise viel mehr Parallelen zum Faschismus auf: die Militarisierung der Gesellschaft etwa oder den blinden Gehorsam gegenüber dem Führer. Zudem sei Nordkorea einer der letzten verbliebenen Staaten, die sich "im Krieg gegen den amerikanischen Imperialismus" befänden.
Im Februar veröffentlichte der US-Investigativjournalist Nate Thayer Recherchen über Nordkorea-Sympathisanten in westlichen Ländern. Unter anderem fand er heraus, dass führende Rechtsradikale aus Amerika, teilweise auch aus Europa, Verbindungen nach Nordkorea unterhalten. Dass Neonazis eine Faszination für Nordkorea entwickeln, liegt im Grunde auf der Hand: Die Gesellschaft unter der Kim-Herrschaft fußt zu weiten Teilen auf Rassismus.
Nehmen wir als Beispiel das Arirang-Festival, bei dem mehr als 100.000 Nordkoreaner jedes Jahr an der weltweit größten Stadionchoreografie mitwirken. Von Medien wird das Massenspektakel vor allem als stalinistische Praxis angesehen, bei der jeglicher Individualismus ausgelöscht wird. Bryan G. Myers behauptet jedoch: Hier zelebriert eine Nation ihre rassische Homogenität. Welche multikulturelle Gesellschaft könne schon zehntausende junge Frauen nebeneinanderstellen, die alle gleich groß sind, die gleiche Haarfarbe haben und fast exakt den gleichen Hautton?
Ideologie mit der Muttermilch
Ein essenzielles Narrativ der nordkoreanischen Propaganda lautet: Koreaner gehören einem moralisch überlegenen Volk an. Sie werden tugendhaft geboren und sind unverdorben von Buddhismus und Christentum. Dieses auserwählte Volk möchte nur für sich in Frieden leben, doch stattdessen wird es ständig von außen bedroht, vor allem von Amerika. Mit dieser Sichtweise rechtfertigt das Regime nicht nur seine hermetische Abriegelung von der Außenwelt, sondern auch sein Nuklearprogramm.
Natürlich wissen die meisten Nordkoreaner längst Bescheid, dass es ihrem südlichen Nachbarland wirtschaftlich ungleich besser geht – durch DVDs vom Schwarzmarkt oder Erzählungen von Bekannten, die in China waren. Doch all das würde die Kim-Herrschaft keinesfalls gefährden, glaubt Myers, denn im Gegensatz zur Sowjetunion und China habe die nordkoreanische Propaganda den Diktator nie mit dem Lebensstandard verknüpft.
Andererseits bekommt das Volk die Ideologie quasi mit der Muttermilch eingeflößt. Daher sei es nur natürlich, dass Nordkoreaner im Verlauf ihres Lebens einen psychologischen Abwehrmechanismus gegen alles entwickeln, was ihr Selbstbild vom Staat gefährdet. Sich einzugestehen, dass das südkoreanische System dem ihren überlegen ist, käme einem Eingeständnis gleich, dass ihr ganzes Leben vergebens war, genau wie das ihrer Eltern. (Fabian Kretschmer, derStandard.at, 31.10.2014)