Der Morgendunst hat sich über die Hügel bei Volterra gelegt wie Tüll auf goldbraune Haut. Keine dicke Nebelsuppe, nur ein zarter Schleier, der die herbstliche Toskana rund um das Landgut Pieve de Pitti, rund 20 Autominuten südöstlich von Pisa, im ersten Licht des Tages weichzeichnet. Hinter diesen Hügeln ist nur weites Land, noch überraschend bäuerlich und unverbaut geblieben für einen Fleck im begehrtesten Landstrich Italiens. Gleich auf der anderen Seite der Kuppe, in La Sterza-Lajatico, liegt das nächste Anwesen, die Azienda Bocelli.

Der Blick auf Volterra von Pieve de Pitti
Foto: René van Bakel/ASAblanca.com

Seit Generationen hat die Familie Bocelli dieses Land bewirtschaftet - anfänglich noch für das Florentiner Adelsgeschlecht Corsini. Nach und nach erwarben sie eigenen Grund und einen kleinen Hof, heute wird die Azienda mit rund 120 Hektar landwirtschaftlicher Fläche von Alberto und Cinzia Bocelli geführt. Im Jahr 2000 beschlossen sie, neben Getreide, und Oliven verstärkt Wein zu produzieren - Bocelli-Wein, wie ihn bis dahin Vater Alessandro kelterte und der nun unter der Ägide der Söhne Alberto und Andrea kultiviert werden sollte, jenes Andrea Bocelli, der 1958 in Lajatico geboren wurde, in diesen Hügeln und auf diesem Hof aufwuchs und heute als der Tenor mit den meistverkauften Platten bekannt ist.

Ruhe zwischen den Reben

Über diese Weine, die auch seinen Nachnamen tragen, hat Andrea Bocelli einmal gesagt: "Wenn ich von einer meiner Reisen, die oft mit Entbehrungen verbunden sind, nach Hause komme, soll immer eine dieser Flaschen auf meinem Tisch stehen. Sie bereitet mir die größte Freude. Sie bringt mir die Erinnerung an meinen Vater zurück, der mit seiner starken, ruhigen Stimme die Früchte dieser Hügel mit beinahe religiöser Inbrunst lobte. Zwischen diesen Reben kann ich nach jeder Reise Frieden finden."

Weingut Pieve de Pitti
Foto: René van Bakel/ASAblanca.com

Das klingt nach gutem Marketing für die Hausmarke Bocelli - ist aber wohl mehr als das: Der Sänger verlässt die Gegend um seinen Geburtsort wirklich ungern. Mit dem Verlust des Augenlichts im Alter von zwölf Jahren habe das nichts zu tun, Fragen dazu kommentierte er in Interviews meist mit einem knappen: "Die Blindheit bestimmt mein Leben nicht."

Cinzia und Alberto Bocelli
Foto: René van Bakel/ASAblanca.com

Heute wohnt Andrea Bocelli keine 80 Kilometer entfernt von Lajatico in Forte dei Marmi an der Küste der Versilia. Dort haben wir den Tenor in seinem Haus besucht, wo ein Ara, den er auch bloß "Ara" nennt, Fragen über die Toskana, das Reisen und das nächste Ziel, Wien, neugierig verfolgte:

STANDARD: Herr Bocelli, es ist vielleicht eine seltsame Frage, wenn man den Ort kennt, an dem Sie aufgewachsen sind: Aber wo fühlen Sie sich heute zu Hause?
Andrea Bocelli: Tatsächlich an jenem Ort, wo ich geboren und aufgewachsen bin, wo ich die meiste Zeit verbracht habe - in Lajatico. Erweitert kann ich das von der gesamten Toskana sagen, immerhin lebe ich ja nun in der Versilia.

Andrea Bocelli mit Ara vor seinem Haus in Forte dei Marmi.
Foto: René van Bakel/ASAblanca.com

STANDARD: Sie verlassen die Toskana nie länger, warum?
Bocelli: Ich bin der Überzeugung, dass der Ort, wo du geboren bist, alle nötigen Zutaten hat, durch die du mental und körperlich wachsen kannst. Es gibt keine Notwendigkeit, andere Orte zu besuchen, wiewohl es viele schöne Orte zu bereisen gäbe. Ich kenne gute Beispiele für dieses Lebenskonzept: Immanuel Kant hat Königsberg nie verlassen. Die Leute kamen zu ihm, er musste nicht reisen und konnte trotzdem wachsen. Und vor ihm leisteten schon Aristoteles und Sokrates Großes, ohne viel von der Welt gesehen zu haben.

STANDARD: Es gibt also keinen Ort, den Sie unbedingt einmal besuchen wollen?
Bocelli: Nein. Ich bin schon viel mehr in der Welt unterwegs gewesen, als ich es jemals wollte. Gut, ich betrachte es als Glück, dass ich auf Reisen Erfahrungen sammeln konnte. Aber ich bin kein begnadeter Tourist.

STANDARD: Welche Plätze in der Toskana empfehlen Sie "begnadeten Touristen"?
Bocelli: Nun, ich denke, es ist wohl das Beste, einfach rauszugehen und loszuspazieren.

STANDARD: Auch wenn Sie nicht gerne reisen, fahren Sie oft mit dem Boot hinaus aufs Meer. Ist das Ihre Passion, das Meer?
Bocelli: Ja, voll und ganz! Das Meer ist für viele Menschen wichtig. Wenn sie vom Urlaub träumen, träumen sie vom Meer.

Der Strand von Forte dei Marmi
Foto: René van Bakel/ASAblanca.com

STANDARD: Aber Sie kommen aus den Bergen, wenn man die Hügel der Toskana so nennen will. Was ist Ihr Traum - die Berge oder das Meer?
Bocelli: Das Meer. Ich habe es bewusst gesucht, weil Seeluft gesund für mich ist. Ich wählte das Meer aber auch, weil es mir eben den Eindruck von Urlaub vermittelt - ohne wegfahren zu müssen.

STANDARD: Gibt es ein Lied, das Sie den Hügeln von Lajatico gewidmet haben?
Bocelli: Da gibt es ein Lied. Eines über das Land, über den Wein und die Natur. Wenn ich dieses Lied singe, muss ich unausweichlich an meinen Geburtsort und die Menschen dort denken. An die Geschmäcker und die Gerüche. Je länger ich von zu Hause weg bin, desto eher denke ich an all das. Dieses Lied heißt Melodrama.

STANDARD: Nächste Woche müssen Sie trotzdem wieder verreisen - nach Wien, weil Sie dort ein Konzert geben. Freuen Sie sich darauf?
Bocelli: Absolut! Wien ist in vielerlei Hinsicht ein anregender Ort.

STANDARD: Das mussten Sie jetzt wohl sagen. Was mögen Sie an Wien?
Bocelli: Wien ist eine Stadt der Künste, der Musik und der Pferde. Alles Dinge, die mich begeistern. Aber die Stadt hat noch einen anderen Vorteil: Sie ist nah an Italien, weniger als eine Flugstunde entfernt von meinem Zuhause ...

STANDARD: ... das sehr einsam liegt. Können Sie das Bad in der Menge auf Ihren Konzerten überhaupt genießen?
Bocelli: Man muss eine gute Balance finden, um von beiden Momenten zu profitieren. Es ist mir schon wichtig, von unserer Existenz auf der Erde etwas mitzubekommen, also auch viele Menschen auf den Konzerten zu hören. Genau zuzuhören ist aber immer wichtig - auch bei einer Musik, die aus der Stille geboren wurde. (René van Bakel, DER STANDARD, 31.10.2014)