"Moving Around X": Choreograf Michael O'Connor untersucht mit Karin Pauer (vorne) die Psychogeografie der Gegenwart.

Foto: O'Connor, Georg Scheu

Wien - Für sein Männerquartett Untitled, das um Halloween im Tanzquartier Wien zu sehen war, hat der italienische Choreograf Alessandro Sciarroni einen makabren Untertitel erfunden: I'll be there when you die. Weniger grob kommt der Untertitel daher, den sich Michael O'Connor für seine Arbeit Moving Around X - uraufgeführt am Wochenende im Wiener Mo.ë - ausgesucht hat: the psychogeography of metaphor. Sowohl bei Sciarroni als auch bei O'Connor geht es um das Thema Zeit.

Der Italiener wurde durch sein Stück Folk-s, in dem bis zur Erschöpfung geschuhplattelt wird, bekannt. Eine schlichte Arbeit, in der auf den Schmäh des Marathonschuhplattelns als zeitgenössische Performance gesetzt wird. Ähnlich einfach gestrickt ist auch Untitled. Da wird artistisch geschickt mit Keulen jongliert, und im Programmheft ist zu lesen: "Eine performative und choreografische Meditation über das Verstreichen von Zeit." Der Witz am Untertitel soll also sein, dass immerhin die Zeit da sein wird, wenn jemandes Lebenszeit abläuft. In einer so aufgeladenen Zeit wie der Gegenwärtigen wirkt so eine Irrelevanz richtig trotzig.

Philosophisches Rüstzeug

Genau das Gegenteil geschieht bei Michael O'Connor. Ihm dient das Zeitmotiv, um der Frage nachzugehen, mit welchem philosophischem Rüstzeug die Navigation durch komplexe kulturelle Umwelten möglich wird. Wie in seinem vorangehenden Stück Tertiary - das im Sommer bei Impulstanz zu sehen war - arbeitet der aus den USA stammende Choreograf auch hier mit der Tänzerin Karin Pauer zusammen.

In Moving Around X verknüpft O'Connor Bezüge zum Surrealismus, zum Situationismus (worauf bereits der Begriff "Psychogeografie" im Untertitel verweist) mit Ideen aus der Kognitionswissenschaft, etwa von Mark Johnson. Im Zeichenreichtum des Performanceraums - einer kulturell definierten Zeit und ihrer sozialen Körper - steuern ein Mann und eine Frau eine Komposition aus symbolischen Handlungen.

Dünne Seile, eine projizierte digitale Uhr, das im Wind eines Ventilators tanzende Bild eines Baums, der Song Happy Days Are Here Again in der Interpretation von Judy Garland und Barbra Streisand, schwarzer Teig auf bloßer Haut und Säcke mit lockerer Erde kommen ins Spiel. Psychogeografie ist die Untersuchung dessen, was eine Umwelt mit unseren Emotionen macht. Dem folgend, zeigen O'Connor und Pauer, wozu Tanz wird, wenn er als Reaktion auf eine Verschiebung der gewohnt geordneten Umgebung entsteht.

Die im Körper abgebildete Wirklichkeit der Welt kann als Metaphernansammlung verstanden werden, die sich zu philosophischen Konzepten ordnen lassen. Moving Around X macht erlebbar, wie fragil das Verhältnis zwischen Wirklichkeit und Wahrnehmung ist. Und dass die durch diese Fragilität geschaffenen Spielräume Handlungen ermöglichen, die das Regelwerk des Normalen aufbrechen und damit das Erstarren sozialer Gebilde verhindern. (Helmut Ploebst, DER STANDARD, 3.11.2014)